Das war lustig: Peter Unfried fragt in der taz: „Wer von Ihnen hat schon zu „Kling Klang“ getanzt?“ Ich denk so bei mir: „Äh, Kling Klang? Was meint er? Keimzeit kann’s ja nicht sein, ist doch ein Wessi.“ Und dann geht es im Artikel darum, dass das ein Ossi-Wessi-Test ist, mit dem man ermitteln kann, wo jemand herkommt.
Keimzeit ist Schlager. Bisschen über banal. Das Lustige ist, dass mir Norbert Leisegang als Support von Sandow untergekommen ist, weshalb ich ihn sogar fotografiert habe.
Peter Unfried schreibt:
Eine volle Tanzfläche bei „Kling Klang“ wird es nicht reißen, aber es wäre ein Anfang, eine Geste des kulturell-biografischen Respekts, die du und ich uns echt abringen sollten.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie ich auf diese Zeilen antworten kann.
Ich schreie drei mal Indianer! Weil die Wessis sich jetzt einfach unsere Kultur aneignen! Selbst #Keimzeit wollen sie uns wegnehmen.
Ich sage schlicht, dass ich nie zu Keimzeit tanzen werde. Dann lieber gleich zu Sandow.
Ich weise darauf hin, dass dieser verdammte Wessi Peter Unfried für dich und für sich selber geschrieben hat, aber nicht für uns, denn Wessis reden nicht mit uns, sondern über uns und dass sie mal nett zu uns sein sollten.
Ich habe das Ganze für Mastodon etwas zugespitzt, aber das Beispiel illustriert doch recht schön, dass „die Medien“ über uns schreiben, als wären wir nicht im selben (Diskurs-)Raum. Selbst wenn sie wie Peter Unfried im Konkreten und die taz im Allgemeinen das Problem erkannt haben und eine Wiedervereinigung herbeiführen wollen. Der Osten, das sind immer die Anderen. Selbst bei Wissenschaftler*innen, die doch neutraler und systematischer vorgehen sollten. Siehe Blog-Post über ein Radio-Interview mit Jutta Allmendinger.
PS: Mir ist erst später aufgefallen, dass das „Du und ich“ eine geschickte Wiederaufnahme des Liedtextes war. Nur ist sie leider für alle, die „Born in the GDR“ sind, daneben gegangen.
Kai-Uwe Kohlschmidt, Sänger von Sandowhervorgehobener Leserbrief in der taz, die zum taz-Lab erschienen ist.Leserbrief in der taz, die zum taz-Lab erschienen ist.
Ich habe viele, viele Reaktionen zu meinem Artikel über Anne Rabes Buch in der Berliner Zeitung bekommen: Leserbriefe über die BLZ, Emails direkt an mich, Briefe und Post-Karten, Anrufe, Hinweise auf Bücher mit eigenen Biografien, ja sogar ein Päckchen mit einem solchen Buch. Eine Zuschrift war eine Interviewanfrage eines Hamburger Radio-Senders. Das Interview in „Heiße Tasse“ hat inzwischen stattgefunden und ist auch Bestandteil meines Blogs geworden. Insgesamt waren von den Zuschriften 30 positiv und sechs in einzelnen Punkten kritisch oder insgesamt negativ (Stand 14.06.2024). Zu den negativen/kritischen möchte ich hier Stellung nehmen. Teile positiver und negativer Briefe wurden in der Berliner Zeitung am 01.06.2024 veröffentlicht. Dazu gibt es eine Antwort in der BLZ vom 15.06.2024. Der ursprüngliche Antworttext war 17.000 Zeichen lang und lag somit deutlich über den 5.000 zur Verfügung stehenden Zeichen. Dieser Text überlappt sich etwas mit den Antworten hier.
Saarbrücken ist nicht Neunkirchen
Auf Mastodon und von einem Leser wurde ich darauf hingewiesen, dass Erich Honecker nicht in Saarbrücken sondern in Neunkirchen geboren ist. Dieser Fehler tut mir Leid. Er war im ursprünglichen Blogpost nicht enthalten und meine Erinnerung hat mich wohl der Pointe wegen beim Schreiben des Artikels getäuscht. Da ich den gedruckten Artikel in der Berliner Zeitung nicht mehr ändern kann, werde ich den Honecker-Eintrag in der Wikipedia ändern. (Das war ein Scherz, der zum nächsten Abschnitt überleitet.)
Wikipedia ist keine wissenschaftliche Quelle
Mehrfach kam der Einwand, dass Wikipedia keine wissenschaftliche Quelle ist. Das ist mir durchaus bewusst. Ich bilde Student*innen im wissenschaftlichen Arbeiten aus (siehe hier meine Richtlinien für Hausarbeiten). In der Online-Version des Artikels sind die wissenschaftlichen Quellen zitiert. Im Druck-Artikel war dafür kein Platz, aber am Ende des Artikels gibt es einen Verweis auf die Online-Version.
Wikipedia ist auch für Wissenschaftler*innen ein erster Anlaufpunkt. Man kann dort nachlesen und dann die dort zitierte Fachliteratur konsultieren. Im Fall der Amokläufe und der Kindstötungen habe ich das getan. Der Verweis auf Wikipedia im BLZ-Artikel und hier im Blog-Post hatte den Sinn zu zeigen, wie einfach es gewesen wäre, einen Startpunkt für weitere Recherchen zu finden. Weder Anne Rabe noch irgendeine*r der Buchpreis-Juror*innen oder Rezensent*innen (Ausnahme Wiebke Hollersen) hat das getan. Ich zitiere hier meinen Artikel:
Zusammenfassend kann man sagen, dass Anne Rabes Buch an vielen wichtigen Stellen gravierende Fehler enthält, die oftmals durch nur einen Klick in die entsprechenden Wikipedia-Artikel oder einen zweiten Klick in die dort verlinkte Fachliteratur als solche erkannt werden können.
Ein weiterer Grund, Wikipedia in bestimmten Situationen zu verwenden, ist, dass Argumentationen nachvollziehbar sein sollen. Die verlinkten Dokumente müssen dazu zugänglich sein. Das ist bei Fachpublikationen leider immer noch nicht der Fall. Eine Zusammenstellung der Fakten über die Wehrsportgruppe Hoffmann wäre zum Beispiel nicht zu leisten. Ich müsste dazu im Prinzip Wikipedia replizieren.
Absolute und relative Zahlen
Ein Professor schreibt mir:
Wenn Herr Professor Müller so stark auf die Richtigkeit der Fakten abstellt, was die Aussagen von Frau Rabe in Ihrem Buch „Die Möglichkeit von Glück“ angeht, so ist das nicht zu beanstanden. Es stimmt mich aber bedenklich — und das stellt dann auch den ganzen Artikel in Frage — wenn die Aussagen der Autorin bewusst (?) nicht richtig interpretiert werden. Wenn im Jahre 2006 im Westen 48 und im Osten 34 Kindstötungen erfolgten, dann kann man nicht einfach sagen, dass dies 29% weniger Tötungen im Osten waren als im Westen. Wer diese Zahlen nämlich ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, der stellt fest, dass 2006 4x mehr Westdeutsche als Ostdeutsche in Deutschland lebten. Wenn ich die Zahl 48 mit 4 multipliziere, dann ist das Ergebnis 192. Die Aussage von Frau Rabe — richtig interpretiert — fällt sogar noch günstig für die Ostdeutschen aus.
Herr Professor Müller: Wenn man so anspruchsvoll daherkommt, sollte man sich schon etwas mehr Mühe geben.
Leserbrief OL
Diese Aussage enthält die Unterstellung, ich hätte die Autorin bewusst fehlinterpretiert. Hier ist die zitierte Stelle aus meinem BLZ-Artikel:
Als letzten Punkt möchte ich die Kindstötungen ansprechen. Anne Rabe behauptet in ihrem Nicht-Sachbuch, dass die Zahl der Kindstötungen in den 90er- und 2000er-Jahren im Osten doppelt so hoch war wie im Westen und im Jahr 2006 auf das Vierfache anstieg. Schaut man in Studien zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) dieser Jahre, stellt man fest, dass die Fallzahlen insgesamt so klein sind, dass man keine statistisch relevanten Aussagen machen kann.
Außerdem weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Fälle mit dem Jahr der Erfassung in die PKS eingehen. Das war für die neun Kindstötungen, die in Frankfurt (Oder) zwischen 1988 und 1999 stattfanden, das Jahr 2006. Dadurch ist der extreme Anstieg von 2006 zu erklären, denn die Fallzahlen insgesamt sind sehr klein. Zu guter Letzt ist die Aussage von Anne Rabe, die Zahl der Kindstötungen sei im Osten doppelt so hoch wie im Westen gewesen, schlicht falsch. Wenn dem so wäre, wäre das wirklich extrem, denn im Osten gibt es viel weniger Menschen und viel geringere Geburtenraten als im Westen.
Die absoluten Zahlen für 2006 betragen 48 tote Kinder für Westdeutschland und 34 für Ostdeutschland – das sind 29 Prozent weniger. Wenn die absoluten Zahlen im Osten viermal so groß wie im Westen gewesen wären, hätten es 192 statt 34 Kindstötungen sein müssen.
Die Kritik des Lesers ist sehr merkwürdig, denn ich habe im Satz vor den absoluten Zahlen geschrieben, dass es im Osten viel weniger Menschen und viel niedrigere Geburtsraten gibt als im Westen und dass man, wenn man die absoluten Zahlen betrachten würde, nicht auf eine um den Faktor vier höhere Tötungszahl kommen könnte. Im von mir eingereichten Beitrag stand auch noch ein Satz zur Ermittlung der Opferziffern (OZ). Relevant sind die Kindstötungen pro 100.000 Menschen im relevanten Alter (Kinder unter sechs Jahren).
Leider ist dieser Satz im Redaktionsprozess verloren gegangen, was mir nicht aufgefallen ist. Ich hätte den ganzen Absatz noch einmal sorgfältig lesen müssen. Jetzt steht folgendes in der Online-Version:
Die absoluten Zahlen für 2006 sind für Westdeutschland 48 und für Ostdeutschland 34. Was untersucht wurde, ist die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Kindern unter sechs Jahren.
Im Original-Blogpost zum Thema ist das richtig. Hier noch einmal die Grafik aus der Polizeistatistik mit den relativen und absoluten Zahlen:
Man sieht sehr schön, dass die relativen Zahlen (West 1,28 vs. Ost 5,76) sich anders verhalten als die absoluten (48 vs. 34). Die relativen Zahlen sind in der Tat um den Faktor vier höher, die absoluten Zahlen sind aber um 29 % niedriger.
Wer spricht?
Leser Reinhard Brettschneider schreibt:
Sehr geehrter Herr Müller, liebe Berliner Zeitung, es ist sehr gut, dass die Berliner Zeitung so vielfältig und frei Menschen ihre Meinung schreiben lässt. Ich finde es super, Herr Müller, dass Sie diesen Freiraum nutzen. Ich bin froh, dass ich, seinerzeit 29 Jahre alt, mit dem Ende der DDR diese Freiheiten auch dort erleben konnte.
Ich finde mich in Ihren Artikel in keiner Weise wieder. Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Hier die einzelnen Punkte kommentiert:
Für mich ein Artikel mehr, der Spaltung zwischen Ost und West erhalten will. Und ich persönlich bin sehr froh, dass ich sowohl persönlich als auch beruflich diesen Spaltergeist nicht erlebe.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Sehr geehrter Herr Brettschneider, ein erster Beitrag zur Heilung wäre ein angemessene Wahrnehmung der Tatsachen, eine faire Berichterstattung in den Medien. Diese ist nicht gegeben, weshalb ich diesen Blog betreibe. Ich erlebe diesen Spaltergeist auch weder beruflich noch persönlich. Wir hatten gerade eine private Party mit ca. 70 Menschen, bei denen wahrscheinlich 80 Prozent aus dem Westen waren. Wir waren mit Familien aus dem Westen im Urlaub usw. In meinem Umfeld an der Humboldt-Uni komme ich primstens mit allen aus. Einige meiner Kolleg*innen haben mich auch auf den Artikel angesprochen. Positiv. Die Spaltung ist real. Gerade auch bei Professuren zeigt sie sich. Ich bin an unserem Institut an einer Ost-Uni der einzige Ossi von neun Professuren. Von 22 Jura-Professor*innen sind zwei aus dem Osten. Ich habe in Ich will was sagen über meine Entwicklung zum Ossi und die Gründe für diesen Blog geschrieben. Spaltung liegt mir fern. Wissenschaft geht auch ohnehin nur gemeinsam. Ich habe lange Jahre in Saarbrücken, Bremen, in Jena und auch an der FU-Berlin gearbeitet. Ausschließlich mit West-Professor*innen. Ich bin auch ins DFG-Fachkollegium gewählt worden. Das Fachkollegium vergibt die Forschungsmittel, die Wissenschaftler*innen beantragen können. Wählen dürfen alle im betreffenden Fach Promovierten. Auch dort war ich der einzige Ossi. Ich habe als Ossi im beruflichen Umfeld keinerlei Probleme. Ich möchte hier auf Missstände hinweisen und die Spaltung überwinden. Dazu ist es wichtig, dass tendenziöser Berichterstattung etwas entgegengestellt wird.
Eine Sache hat mich besonders irritiert. Gleich am Anfang schließen Sie 2 Gruppen aus dem Diskurs aus und Ihre Begründungen klingen für mich wie „niedrige Beweggründe“ mit denen beide Gruppe, ihre Meinung zur DDR bilden.. Wenn ich ehemalige Oppositionelle in Medien oder anderswo erlebe, so haben sie sehr unterschiedliche und differenzierte Meinungen. Zu der anderen Gruppe hatte und habe ich zu wenig Kontakt.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Ich habe zu diesem Punkt in einem Blog-Post über einen Artikel von Patrice Poutrus geschrieben. Ad hominem-Argumente sind immer schwach, in bestimmten Diskussionen sogar schlecht, eine Form von Whataboutism. Aber in der aktuellen Situation ist es schon wichtig zu schauen, wer spricht. Mir geht es um extreme Ansichten. Es gibt Historiker oder andere Autor*innen, die kein gutes Haar an der DDR lassen und eben auch faktisch Falsches oder logisch Unhaltbares von sich geben. Und man fragt sich dann, warum sie das tun. Patrice Poutrus war in der DDR hauptamtlicher FDJ-Sekretär. Er hat vor der Wende angefangen Geschichte zu studieren. Das waren nur die rötesten Socken. Genauso kommt Ines Geipel aus einem Elternhaus mit Stasi-IM, der für Terroranschläge auf dem Gebiet der BRD zuständig war. Kahane ist die Tochter eines führenden DDR-Journalisten. Diese Menschen haben sich irgendwann von ihrer Vergangenheit gelöst, sind dabei aber über das Ziel hinausgeschossen. Sie sind keine verlässlichen historischen Zeitzeugen, so wie Anne Rabe auch keine verlässliche Quelle in Bezug auf die DDR ist. Der Abschnitt mit der Selbstvorstellung in der Berliner Zeitung ist – gemessen an dem, was ich hätte auch noch sagen wollen und müssen – vielleicht etwas zu lang geraten. Er war nötig, um zu zeigen, dass ich kein „Im Osten war alles dufte“-Mensch bin, kein Ostalgiker und kein Jammer-Ossi (ein Begriff zur pauschalen Zurückweisung aller Klagen).
Übrigens war ich beim taz-Lab mit zwei Ostlerinnen, die beide in der Jungen Gemeinde waren. Eine der beiden ist in der zehnten Klasse aus politischen Gründen von der Schule geflogen. Sie hat einen Ausreiseantrag gestellt und durfte zwei Wochen vor Maueröffnung in den Westen ausreisen. Wir fanden es alle drei kurios, dass jetzt die Dissident*innen die DDR verteidigen müssen. Also: Es gibt immer sone und solche. Ich versuche, ein differenziertes Bild von der DDR zu zeichnen.
Ich bin Physiker und deshalb etwas zahlenaffin. Herr Müller, Sie haben vollkommen recht, dass Frau Rabe falsch liegt, wenn sie behauptet hat, dass die absolute Zahl der Kindstötungen in in den neuen Bundesländern über den der alten Länder lag. Ich kenne das Originalzitat von Frau Rabe nicht, aber üblich sind in solchen Fällen für Vergleiche natürlich relative Zahlen. Grobe Zahlen zum einfachen Rechnen: Neue Länder ca. 14 Mio (inkl. 1,4 Mio Berlin), alte Länder 70 Mio., 25 (=34–9 wegen des Sondereffekts) vs. 48 macht einen Anteil von 1,8 pro Mio Einwohner gegen 0,7 pro 1 Mio. Das ist etwa das 2,5 fache. Das ist schon eine deutliche Korrelation, insbesondere wenn es über einen langen Zeitraum so war. Korrelation ist keine Kausalität. Und ich vermute, dass die absolute Zahl (zum Glück) so klein ist, dass die gewiss vielfältigen Ursachen nicht wissenschaftlich erforscht werden.
Liebe Berliner Zeitung, auch wenn Sie für die OS-Artikel inhaltliche Verantwortung ausschließen, wäre ein Faktencheck bei einem Artikel, der sich auf Fakten beruft, vielleicht doch angebracht.
Leserbrief Reinhard Brettschneider
Lieber Herr Brettschneider, ich habe angefangen, Mathematik zu studieren, dann – als es den Fachbereich gab – zu Informatik gewechselt und in Informatik promoviert. Ich bin auch zahlenaffin. Im vorigen Abschnitt habe ich erklärt, was schief gegangen ist. Der Satz bezüglich der Kindstötungen pro 100.000 Geburten ist dem Ping-Pong mit der zuständigen Redakteurin zum Opfer gefallen. Sie hatte angemerkt, dass mit den absoluten Zahlen etwas unklar sei, weshalb ich dann noch eingefügt hatte, wie hoch die absoluten Zahlen sein müssten, wenn man Anne Rabes Aussage zugrundelegen würde. Hier können Sie auch sehen, dass die Redaktion durchaus auch inhaltlich mit mir an dem Artikel gearbeitet hat. Die Veröffentlichung wurde um mehrere Wochen verzögert, weil da noch Dinge geprüft wurden. Es wäre übrigens nicht korrekt, wie Sie vorgeschlagen haben, die Bevölkerungsgrößen zum Vergleich heranzuziehen. Das kann man sehen, wenn man sich überlegt, was wäre, wenn in den neuen Bundesländern in einem Jahr nur ein Kind geboren würde. Wenn dieses dann getötet würde, wäre die Zahl der getöteten Kinder pro Einwohner extrem gering. Die Zahl der Kindstötungen pro Geburt läge aber bei 100%. Was in der Polizeistatistik also angegeben wurde sind die Zahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten. Das wäre vergleichbar, wenn es nicht Probleme mit Dunkel- und Hellfeld in der Erfassung und das Problem der insgesamt zu niedrigen Fallzahlen gäbe, die Sie ja auch ansprechen. Man kann daraus absolut nichts ableiten. Das habe ich im Artikel auch geschrieben:
Die Autorinnen der zitierten Studie schreiben das auch explizit (Höynck, Behnsen & Zähringer. 2015: 337). Sie können in der Studie auch noch weitere problematische Aspekte finden. Zum Beispiel Aufnahme des Falls durch die Polizei vs. Anklage vs. Verurteilung. Die PKS listet die Fälle erst mal nur aus der Sicht der Polizei. Es kann sich dann immer noch herausstellen, dass die Sachlage anders war. Ich bitte Sie, noch meinen originalen Blog-Post zu dem Thema Kindstötungen zu lesen. Da sind die Gründe, warum man aus der PKS nichts ableiten kann, genau erklärt. Leider konnte ich auf der einen Seite, die mir zur Verfügung stand, nicht tiefer ins Detail gehen.
Kausalität und Faktencheck
Im folgenden Leserbrief geht es um die Tatsache, dass der Faschismus im Osten in seiner jetzigen Ausprägung nicht ohne den Westen möglich gewesen wäre. Wie ich im Original-Artikel ausgeführt habe, haben die Polizei und auch zuständige Politiker*innen in Rostock-Lichtenhagen massiv versagt. Alle beteiligten waren aus dem Westen und trotz Ankündigung der Ausschreitungen im Wochenende. Parteistrukturen wurden von Neonazis aufgebaut (Deutsche Alternative), rechte und rechtsextreme Aktivitäten von Gerichten und Verfassungsschutz geschützt oder gedeckt. Ich gebe hier einen Leserbrief komplett wieder und gehe dann auf Details ein:
Das Lesen des Beitrages von Herrn Stefan Müller hat mich doch etwas ärgerlich gemacht, denn von einem Hochschullehrer hätte ich doch ein wenig mehr erwartet. Aber mal im einzelnen: Ich fand den Ton des Beitrages schon etwas geifernd, was eigentlich unnötig ist, denn wenn man jemanden Fehler nachweisen kann, kommt das in sachlicher Tonlage durchaus besser an. Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können. Der Versuch ging dann doch in die Hose. Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Und dann die Geschichte mit den „Nazi-Aufmärschen“. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Ich verstehe die Emotionalität des Leserbriefschreibers. Ich bin auch manchmal emotional.
Nun zu den Details:
Ein Verständnis von Kausalität, was ist Ursache und was ist Folge, hat Herr Müller offenbar auch nicht so recht. Denn zu den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen schriebt er triumphierend: „Die Neonazis aus dem Westen kam am zweiten Tag“ – ja, wenn es einen ersten Tag, völlig ohne Neonazis aus dem Westen nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen zweiten Tag geben können.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Wer am ersten Tag da war, weiß ich nicht. Darum geht es auch in dem Beitrag nicht. Es geht um die Fakten bzgl. Rostock-Lichtenhagen und da liegt Anne Rabe falsch. Bitte lesen Sie auch den Blog-Abschnitt „Nazis aus dem Westen“ zu diesem Thema. Man hätte diese Ausschreitungen sofort unterbinden müssen. Das ist nicht geschehen, weil die Polizeiführung und Politiker allesamt zuhause waren und der Mob trotz monatelanger vorheriger Ankündigung ungehindert toben konnte. Nazi-Verbrechen sind nie konsequent verfolgt worden, weshalb sich das Problem immer weiter zugespitzt hat.
Und der Versuch mit Höcke und Kalbitz geht daneben: „Höcke und Kalbitz sind aus dem Westen“. Ja, natürlich, aber da sind sie nichts geworden, waren kleine Lichter, groß sind sie erst im Osten geworden. Und ein paar Zeilen später sieht Herr Müller das dann offenbar auch selbst ein: „Natürlich gehört zum Erfolg der Nazis in Ostdeutschland das Fußvolk, das begeistert mitmacht“. Ja, natürlich, ohne Fußvolk kann man in der Politik gar nichts werden.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie die Zusammenstellung der rechtsextremen AfD-Politiker*innen und auch der Landesvorsitzenden, die auch aus der Online-Version des Artikels verlinkt ist. Da können Sie sehen, welche anderen AfDler es noch gibt und gab. Sie können ihre Lebensläufe studieren und selbst nachprüfen, ob aus den jeweiligen Personen im Westen nichts geworden ist. Die AfD ist von neoliberalen Professor*innen aus dem Westen gegründet worden. Diese waren Mitglieder der CDU/CSU, der FDP und ja, sogar der SPD. Die Partei wurde nach und nach immer extremer. Nicht nur im Osten sind extrem rechte Politiker*innen am Werk. Die im Westen werden auch von ihren Landesverbänden immer wieder gewählt. Auch trotz Ausschlussverfahren wegen Holocaust-Leugnung und so weiter. Alles bestens verlinkt. Ich erinnere nur an Dr. Alexander „Wir werden sie jagen“ Gauland, Oberst a. D. Georg Pazderski, Dr. Alice Weidel, Offizier Martin Reichardt, Doris von Sayn-Wittgenstein, PD Dr. phil. Hans-Thomas Tillschneider, Dr. Wolfgang Gedeon. Das sind Menschen mit hohem Bildungsniveau, aus denen im Westen schon was geworden war. Der eindrücklichste Beweis:
Gauland war von 1973 bis 2013 Mitglied der CDU. Er war im Laufe seiner Parteikarriere im Frankfurter Magistrat und im Bundesumweltministerium tätig und leitete von 1987 bis 1991 die Hessische Staatskanzlei unter Ministerpräsident Walter Wallmann, der sein Mentor war.
Und vielleicht sollte man auch den Chef des Bundesverfassungschutzes Hans-Georg Maaßen erwähnen, der durch Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Amt geholt worden war und der nun selbst durch seine eigene Behörde beobachtet wird. Wie wird man groß?
Und dann die Geschichte mit den “Nazi-Aufmärschen”. Dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut ist, ist gerade erst zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes wieder betont worden, und dass es hohe Hürden gibt, bevor eine Demonstration verboten werden kann sollte auch bekannt sein. Dafür die Verwaltungsrichter in Gera zu schelten und dann auch noch darauf hinzuweisen, dass alle drei „Wessis“ sind, das geht nun wirklich an der Sache vorbei. Es gibt in der Bundesrepublik – anders als früher in der DDR – eine politisch unabhängige Justiz, die nach Recht und Gesetz zu entscheiden hat und nicht nach politischer Opportunität. Dass das manchmal schwer auszuhalten ist, verstehe ich, zumal der zitierte Jenaer Bürgermeister, der den Aufmarsch verbieten wollte, ein Parteifreund von mir ist. Aber das gehört leider nun mal zu einem freiheitlichen Rechtsstaat dazu.
Leserbrief Bernhard Kavemann
Bitte lesen Sie den auch verlinkten Artikel über die drei Richter in der taz. Wenn man sich anguckt, wie ihre Urteile im Vergleich zum Bundesgebiet ausfallen, ist klar, wer da sitzt.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Ist das von der Versammlungsfreiheit gedeckt? Freudenmärsche zur Reichsprogromnacht? Feiern zu Hitlers Geburtstag? Wirklich? Das Bundesverwaltungsgericht sah das bezüglich Heß-Aufmärschen in Wunsiedel anders:
Der erweiterte Paragraf 130 stelle tatsächlich einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, urteilten jetzt die Leipziger Richter. Dieser sei jedoch gerechtfertigt, weil es dem Schutz des öffentlichen Friedens und der Menschenwürde der Opfer und ihrer Nachkommen diene. Der verbotene Aufmarsch in Wunsiedel hätte laut Urteil den öffentlichen Frieden gestört. Er hätte weit über die Stadt hinaus Beachtung gefunden und insbesondere bei Opfern des NS-Regimes die verständliche Furcht ausgelöst vor der gefährlichen Ausbreitung des Gedankenguts der Neonazis, hieß es.
Erleichtert reagierte Wunsiedels Bürgermeister Karl-Willi Beck (CSU): “Wir sind wirklich sehr froh. Damit ist ein gewichtiger Kelch an uns vorüber gegangen.” Die Entscheidung sei jedoch nicht nur für die Kommune von großer Bedeutung, sondern bundesweit.
“Wir freuen uns, dass der Spuk im August beendet ist”, sagte Wunsiedels Landrat, Karl Döhler (CSU). Die Richter hätten seine Behörde auf der gesamten Linie bestätigt. Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein (CSU) sprach von einem “guten Tag für den Rechtsstaat”. Die Entscheidung stärke diesen gegen Verfassungsfeinde.
Auch zu anderen Gelegenheiten wurden NPD-Demos verboten. Ich habe im folgenden nur Fälle aufgeführt, bei denen keine besonderen Verbotsgründe (Corona-Infektionsschutzmaßnahmen, polizeiliche Überlastung am 1. Mai usw.) angeführt wurden:
Rechtsextremistische Aufzüge an geschichtsträchtigen Orten und Gedenktagen sind künftig leichter zu verbieten. Laut einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss einer zuerst angemeldeten Demonstration nicht zwingend Vorrang gewährt werden.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) in Karlsruhe hat die für Samstag geplante Demonstration der rechtsextremen NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) in Berlin endgültig verboten. Das teilte ein Sprecher der Berliner Polizei mit. Das Gericht wies in letzter Instanz eine Beschwerde der Partei gegen das polizeiliche Verbot des Aufmarsches zurück und bestätigte damit eine entsprechende Entscheidung der Vorinstanzen.
Zuvor hatten bereits das Verwaltungsgericht (VG) und das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin das Verbot bestätigt. In den Vorinstanzen hatten die Gerichte das Verbot der Demonstration damit begründet, dass bei dem Aufmarsch mit Straftaten wie Volksverhetzung zu rechnen sei. Zudem ziele das Motto der gegen islamische Zentren in der Stadt gerichteten Demonstration — “Berlin bleibt deutsch” — darauf ab, Feindseligkeiten gegen moslemische Bürger und insbesondere gegen Türken zu schüren. Die Veranstalter hatten rund tausend Teilnehmer erwartet.
Es schockiert mich, dass ein SPDler im Eilentscheid aufgehobene Verbote von NPD-Demos zum Hitlergeburtstag normal findet, während sogar CSUler für ein Verbot von Demos am Todestag von Hitlers Stellvertreter gefochten haben und erleichtert sind, dass der Spuk vorbei ist.
Herr Kavemann, Mitglieder meiner Familie haben im KZ gesessen (siehe Blog-Post zur Kollektivschuld bei Anne Rabe) oder sind gerade noch so einer Verhaftung entgangen (aus beiden Teilen der Familie). Sie waren alle in Ihrer Partei bzw. deren Jugendorganisation SAJ. Und Sie schreiben mir, dass es schon ok ist, dass eine verfassungsfeindliche Organisation am Hitlergeburtstag mit Fackeln durch die Stadt zieht?
Wie die Zitate oben zeigen, gibt es Gestaltungsmöglichkeiten. Die rechten Richter hätten also anders entscheiden können. Und selbst wenn dem nicht so wäre: Die Richter sprechen unser Recht. Wir können es ändern. Wir könnten dafür sorgen, dass solche Aufmärsche verboten wären, so wie es für Wunsiedel ja auch getan wurde. Wenn so eine Rechtsanpassung für Verbote von NPD-Aufmärschen nötig wäre, so müsste das von den zuständigen Stellen umgesetzt werden, die hauptsächlich mit West-Jurist*innen besetzt sind. Wir sind also wieder da gelandet, wo wir angefangen haben: Das ganze Land hat ein Problem und an den Positionen, wo man etwas tun kann, sitzen überwiegend Westler.
Jammer-Ossi
Brief aus Rostock.
ich, „Wessi“ lebe und arbeite in Rostock.
Ich lebe hier gerne und bin dieses Ost- West ziemlich müde.
Was mich an diesem (leider pseudo- wissenschaftlichen) Artikel massiv stört, ist das was ich hier so oft höre.
Die mangelnde Übernahme der Eigenverantwortung. Man war ja doch nur Opfer, man bekam etwas übergestülpt, es gibt doch einen großen Wessi Plan hinter allem, dahinter stecken doch amerikanische Mulits und „es gab auch sehr viel Gutes in der DDR“.. das Softeis und der Original DDR Eierlikör…
Ich kann’s nicht mehr hören!
1. Es gab und gibt viele “Ossi” die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
2. Zur Wahrheit gehört auch: MV ist das Bundesland mit der höchsten Alkoholikerquote, der höchsten Schulabbrecher Quote, die höchste Rate an Diabetikern,… ( Ich arbeite im Gesundheitswesen…). Das ist jetzt mal kein Wessi Ding aus, denn das war zu Zeiten der DDR nicht anders- nur besser vertuscht.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
4. Unwissenschaftlich: In MV (darüber weiß ich inzwischen gut Bescheid — auch über Lichtenhagen) leben 1.7 Mio. Menschen. Tendenz steigend — leider nur durch Zuzug 65+ Menschen aus dem Westen).
Wenn man schon Zahlen vergleicht, Herr Professor, dann sollte die Bezugsbasis stimmen. 1.7 Mio Menschen leben alleine in der Region Hannover mit Braunschweig, da komme ich ursprünglich her.
Es nervt total, dass sich die „Ossis“ selber gerne schön rechnen.…dann braucht man ja nicht ins Handeln zu kommen.
Wikipedia ist übrigens keine akzeptierte Quelle… Eher hier zur Verdummung des Lesers genutzt.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Und dieses Narrativ sollte jetzt hier endlich auch mal aufhören.
Es gibt viele Rostocker die anpacken, die gestalten.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Rechtfertigen tun sich die Ossis nur dauernd vor sich selber… und vergewissern sich, das sie ja nichts machen können.
Kann das endlich mal aufhören?!
Leserbrief HR
Ich war mir erst nicht sicher, ob der Vorstellungsteil, in dem ich über meinen Hintergrund geschrieben habe, nicht zu lang war. Jetzt bin ich froh, dass ich ihn geschrieben habe. Zur mangelnden Übernahme von Eigenverantwortung kann ich sagen, dass ich das aus eigener Anschauung bestätigen kann. Ich habe nach der Wende mit Glück eine Stelle im Wissenschaftlerintegrationsprogramm bekommen. Dieses Programm war für Ostwissenschaftler*innen als Brücke gedacht. Sie wurden drei Jahre finanziert und sollten diese Jahre dazu benutzen, sich in das neue akademische System zu integrieren. Ich hatte kurz nach der Wende bei Prof. Kunze an der Akademie der Wissenschaften eine Hilfskraftstelle und habe dann, als er an die Humboldt-Universität wechselte, eine Mitarbeiterstelle bekommen, weil seine Integrationsmittel frei wurden, da er einen Lehrstuhl an der HU bekam. Kurz vor Ablauf der Dreijahresfrist gab es ein Treffen all derjenigen, die in diesem Programm waren. Ich war auch dabei und war erschüttert: Alle klagten darüber, dass sie nun arbeitslos werden würden und fanden, die Politik müsse etwas tun. Dabei wäre es an ihnen gewesen, sich irgendwie innerhalb dieser drei Jahre zu bewerben.
Ich möchte Ihren Brief jetzt nach den Punkten beantworten:
1. Es gab und gibt viele „Ossi“ die Gewinner sind. Rostock ist voll von gut situierten gebürtigen Rostockern, auch die ehemaligen LPG Vorsitzenden im Landkreis haben sich gut bedient.
Leserbrief HR
Ich sehe mich als absoluten Gewinner an. Das habe ich auch in Ich will was sagen so geschrieben. Ich habe eine Familie, ein tolles Fahrrad (von 1997), eine Wohnung und eine Arbeit, die mir großen Spaß macht. Ich bin Professor am besten sprachwissenschaftlichen Institut, das es in diesem Land gibt. Zur Zeit bin ich sogar Direktor dieses Instituts. Ich habe über 500.000€ an Drittmitteln eingeworben und damit vielen Menschen eine Arbeitsstelle in meinen Projekten geben können. Seit 2014 bin ich Mitglied in der Academia Europaea, Section Linguistic Studies. Meine Erdős-Zahl ist 4. Mein h‑index liegt bei 35 (Google-Scholar-Profil). Ich habe mit meinem Leipziger Kollegen Prof. Dr. Martin Haspelmath (aus dem Westen und sehr in Ordnung) den wissenschaftlichen Verlag Language Science Press gegründet, der sprachwissenschaftliche Bücher im Open Access veröffentlicht. Über tausend Autor*innen haben bei uns veröffentlicht, der Verlag hat insgesamt über 2 Mio Downloads. Noam Chomsky ist einer unserer prominenten Unterstützer*innen. Steven Pinker gehört auch dazu. Ich habe mich nirgends bedient, das war alles harte Arbeit. Politisch aktiv bin ich auch: 2021 war ich Kanzlerkandidat für die Partei Die PARTEI. Außerdem arbeite ich nebenberuflich als Fotograf. Mein Leben ist erfüllt, man könnte auch sagen überfüllt. Mangelnde Eigeninitiative können Sie mir sicher nicht vorwerfen.
Mein kleiner Bruder ist Professor, meine kleine Schwester promoviert. Uns allen geht es gut. Meine Eltern sind bis auf kurze Unterbrechungen bei meiner Mutter sogar als Wissenschaftler*innen durch die Wende gekommen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie nerve, aber ich jammere nicht. Ich beschwere mich! Ich tue das, um Probleme zu lösen, um Dinge zu ändern. Nicht für mich, sondern für dieses Land. Sehen Sie sich die Wahlergebnisse an, dann verstehen Sie vielleicht meine Motivation.
Zu 2. habe ich nichts zu sagen. Ich weiß nicht, was das mit meinem Beitrag zu tun hat.
3. Fragt man nach Beweisen, wo genau die Wessi überall hinter stecken… Kommt nix! Auch mit den amerikanischen Multis… Nix.
Was für eine bequeme mär
Leserbrief HR
Ich habe in meinem Beitrag konkrete Personen bzw. Ereignisse genannt, an denen West-Personen beteiligt waren. Politiker*innen und Polizisten in Lichtenhagen, Politiker, die ehemals Verfassungsschutzpräsidenten waren, die rechten Richter aus Gera, die Politiker der AfD.
Ansonsten gibt es inzwischen auch viel Information zur Treuhand. Der erste Chef von Kahla-Thüringen Porzellan hatte keine Ahnung von Porzellan. Seine einzige Qualifikation bestand darin, dass er einen Bruder bei der Treuhand hatte. Er hat dann auch sehr schnelle eine Pleite hingelegt. Zum Glück war sein Nachfolger ein Porzellaner von Rosenthal. Über die Abwicklung von Elmo in Wernigerode können Sie auch in der Berliner Zeitung lesen. Die Vorstellungen von Birgit Breuel und Detlef Rohwedder können Sie auch dem Artikel entnehmen. Aber eigentlich war das nicht Thema des Artikels.
Zu viertens: Was die Einwohnerzahl von MV mit irgend etwas, was in dem Artikel besprochen wurde, zu tun haben soll, ist mir unklar. Zu Wikipedia siehe oben.
Auch das die linientreuen Richter, Polizisten, sprich der Kader, initial durch Wessis ausgetauscht wurde, ist jetzt kein Geheimnis und war auch richtig – oder sollten die SEDler weiter machen? Mein Onkel gehörte zum Kader auch dazu – und ist noch heute so was von linientreu… würde alles zurückdrehen. Echt unerträglich!
Leserbrief HR
Ja, das stimmt, denn das Fachwissen war auf Ostseite außer bei ein paar Fachanwält*innen, die bei Schalk-Golodkowski gearbeitet haben, nicht vorhanden. Durch den selbst gewählten Anschluss galt plötzlich das westdeutsche Rechtssystem. Man hätte aber den Aufbau-Ost anders gestalten können und zum Beispiel Ost-West-Tandems für Posten bilden können. Ossi wird eingearbeitet und übernimmt dann später. Stattdessen gab es das Gefühl fremdbestimmt zu sein. Das rächt sich jetzt bitter, weil viele rechtsextrem wählen. Die AfD holt die Frustrierten ab.
Es gibt hier (in MV) echt viele Probleme – genauso wie im Westen.
Mit dem Unterschied, daß sich dort niemand mit Wende, die Wessis, … rausreden kann.
Leserbrief HR
Bitte schauen Sie sich statistische Karten an. Sie werden immer die Umrisse der DDR erkennen. Der Wohlstand ist verschieden verteilt. Die Firmen sitzen im Westen und besitzen den Osten. Steuern werden im Westen am Firmensitz gezahlt nicht vor Ort. Patente werden im Westen am Firmensitz angemeldet. Darüber kann man schon klagen. Übrigens ist der Passus mit den „gleichartigen Lebensverhältnissen“ in allen Landesteilen 1994 aus dem Grundgesetz gestrichen worden.
War in Artikel 72 Grundgesetz einst das Handlungsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse“ verankert, wurde das Adjektiv „einheitlich“ 1994 durch das interprerarionsoffenere „gleichwertig“ ersetzt.
Mau, Steffen (2019). Lütten Klein. S. 163
Das Buch meines Kollegen Prof. Dr. Steffen Mau kann ich Ihnen nur wärmstens empfehlen. Er ist Soziologe und präsentiert Ihnen noch weitere Fakten. Auch zur Abwicklung der Eliten im Osten und zu den Transformationen im Ost-Block allgemein.
Es gibt aber auch viele, die genau so einen Artikel nutzen um sich entspannt zurück zu lehnen, als Opfer rumstöhnen, anstatt sich der eigenen Geschichte und Verantwortung kritisch zu stellen. Es gibt ihn schon: den Jammer Ossi.
Leserbrief HR
Das kann schon sein. Mir geht es um die andere Seite, die den gesamten Osten seit Jahrzehnten pauschal beschimpft. So wie auch Sie es getan haben. Ich weise darauf hin, dass die Schuld am Faschismus nicht der Osten allein trägt. Und ich kann das tun, weil ich kein Jammer-Ossi sondern ein erfolgreicher Wissenschaftler bin. Und nein, das hört nicht auf. Ich fange gerade erst an.
Kinderverschickung
Es erstaunt, dass ein deutscher professor ständig wikipedia als beweis bemüht. Seine meinung über kindstötungen ist einseitig: im westen hat niemand gleich mehrere neugeborene in blumentöpfen abgelegt. Aber im westen hat bisher niemand alle blumentöpfe untersucht und das ergebnis bei wikipedia verewigt. Die erwähnte „kinderlandverschickung“ fand übrigens im bombenkrieg statt. Gemeint ist hier schlicht die kinderverschickung – bei der es im osten wie im westen zu gewalt und missbrauch kam. Das sollte man bei wikipedia nachtragen.
Leserbrief F.F., Berlin-wilmersdorf
Es stimmt, es hätte Kinderverschickung heißen müssen. Vielen Dank für den Hinweis, das wurde jetzt im Artikel und überall hier im Blog korrigiert. Kinderverschickung habe ich in einem Blog-Post diskutiert. Soweit ich weiß, sind keine Fälle von Missbrauch bekannt. Das ganze Gesundheitssystem war anders organisiert. Nicht überwiegend kirchlich und nicht profitorientiert. Die Prügelstrafe war – anders als im Westen – bereits 1949 abgeschafft worden (siehe Blog-Beitrag Gewalterfahrungen und 1968 für den Osten), die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle war in allen Bereichen des Lebens strikter.
Was haben die Blumentöpfe mit der Diskussion zu tun? Es geht um die Anzahl der Kindstötungen pro 100.000 Geburten pro Jahr. Dazu gibt es die Polizeiliche Kriminalstatistik. Und Forschungsliteratur.
Dunkeldeutschland
Auch, dass es ein „Dunkeldeutschland“ gar nicht gab, sondern eine Erfindung von Anne Rabe ist. Ich war übrigens bei der Lesung und Diskussion des Romans auf dem taz Kongress und habe die aggressiven, atemlos vorgetragenen detaillierten Vorwürfe des Herrn Stefan Müller mit angehört. Seine Wut war kaum zu bremsen. Niemand konnte seine Behauptungen nachprüfen.
Wir Leser*innen sind intelligent genug, zwischen einem Roman, der Anregungen für eigene Gedanken geben soll, und einer Pauschalisierung einer ganzen Bevölkerung wie Herr Müller behauptet, zu unterscheiden. Herr Müller war touché.
Ich habe nicht gesagt, dass es Dunkeldeutschland nicht gab.
Weil es so eine schöne Geschichte ist, die zu allem passt, was man über Dunkeldeutschland zu wissen glaubt.
Zitat aus meinem Artikel
Ich verwende den Begriff ja sogar selbst. Wenn auch sarkastisch. Ich möchte vorschlagen, dass man seine Verwendung auf das ganze Land ausweitet, denn es sieht allgemein recht finster aus (Man rechne nur mal die Wahlergebnisse von CSU, Freien Wählern und AfD in Bayern zusammen.) Übrigens habe ich im dunkelsten Erlangen für einen Aufbau West gekämpft. Laut CSU hat Erlangen marode Straßenlampen, weshalb da nur ein Plakat dran hängen darf. Das von der CSU. Leider hat es nicht für eine Mehrheit gereicht.
Hier ist das Video vom taz-Lab an der Stelle mit meinem Kommentar. Ich hatte Anne Rabe angeboten, ihr einen 80seitigen Ausdruck meiner Blog-Posts zu überlassen. Sie wollte ihn nicht haben und auch nicht darüber reden. Damit man meine Behauptungen nachprüfen kann, habe ich die Blog-Posts mit Quellenangaben und dann den Artikel in der Berliner geschrieben. Die Behauptungen über den „Ossi an sich“ finden sich im Roman, der kein Sachbuch ist. Zum Beispiel an den Stellen über Amokläufe, zum Beispiel an den Stellen über die Kindstötungen. An Stellen, wo einfach mal behauptet wird, dass Antisemitismus Bestandteil der realsozialistischen Ideologie war:
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Anne Rabe wird dann von einem Bremer Politikprofessor als Quelle für seine nicht belegten Behauptungen bezüglich Antisemitismus zitiert. Das ist ein sich gegenseitig stützendes Netz von Falschbehauptungen. Hier der Blog-Post zum Politik-Professor. Und falls es Fragen zum Antisemitismus und zu offiziellen Einstellungen zum Holocaust in der DDR gibt, kann ich gleich noch den Blog-Beitrag Der Ossi und der Holocaust empfehlen.
Danksagungen
Ich möchte mich bei allen Leserbriefschreiber*innen bedanken. Außerdem danke ich allen Nutzer*innen von Mastodon, die sich an der Diskussion beteiligt haben und auch bei der Suche nach NPD-Gerichtsurteilen Tipps gegeben haben.
Karlsruhe erleichtert Verbot von NPD-Demos. 2005. Der Spiegel. Hamburg.
Höynck, Theresia & Behnsen, Mira & Zähringer, Ulrike. 2015. Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren in Deutschland: Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997–2006). Wiesbaden: Springer. (https://doi.org/10.1007/978–3‑658–07587‑3)
Gestern war ich beim tazlab zum Thema Osten und es war großartig. Viele parallel stattfindende Veranstaltungen zu Themen, die mich auch hier immer wieder beschäftigen. Rassismus in der DDR ist ein Thema und die Frage ist, ob die DDR rassistisch war oder nicht. Es gab eine spezielle Diskussionsrunde mit „Ossis of Colour“. (Aufzeichnung auf Youtube)
Ossis of Colour beim taz-Lab: Patrice Poutrus, Historiker, Peggy Kurka, Autorin, Katharina Warda, Autorin & Soziologin und Moderatorin Adefunmi Olanigan, taz-Volontärin, Berlin, 27.04.2024
Rassismus
Patrice Potrous hat von einer Begebenheit erzählt, bei der er einen rassistischen Vorfall bei der NVA melden wollte und dieser einfach nicht verfolgt wurde. Der Offizier habe das einfach abgebügelt mit der Bemerkung: „Willst Du etwa sagen, dass es in der DDR Rassismus gäbe?“ Was nicht sein kann, dass nicht sein darf.
Katharina Warda wurde 1985 in der DDR geboren. Ihr Vater war Widerstandskämpfer im ANC und ist geflohen. Der ANC wurde in der Bundesrepublik nicht unterstützt, so also DDR. Katharina Wardas Eltern wurden bei der Schwangerschaft der Mutter vor die Wahl Ausreise oder Abtreibung gestellt. Wie es dazu kam, dass sie doch in der DDR geboren wurde, hat sie nicht erklärt.
Alle drei waren sich einig, dass sie froh sein können, die DDR und die Nachwendezeit überlebt zu haben. Katharina Warda hat davon berichtet, dass Personen, die mit ihr über Rassismus im Osten reden, immer ihre vorgefasste Meinung bestätigt sehen wollen. Sie meinte, dass Rassismus kein spezifisches DDR-Problem gewesen und der Westen genauso gewesen sei.
Interessant war, dass alle irgendwie nicht schwarz sein wollten und irgendwie nicht auffallen wollten.
Ich habe die meiste Zeit in der DDR damit zugebracht den Genossenen zu beweisen, dass man zu mir Vertrauen haben kann, dass ich irgendwie doch nicht anders bin. Das ging soweit, dass ich zeitweise sogar im Sommer mich geweigert habe, mich in die Sonne zu stellen, weil es zu einer signifikanten Veränderung meines Äußeren führte.
Patrice Potrous beim tazlab, 27.04.2024
Andere schwarze Ostdeutsche haben was sehr Ähnliches in dem Bereich erlebt, war unglaublich heilsam für mich, denn ich finde auch, und ich weiß nicht wie das in Westdeutschland ablief oder in der alten BRD, aber wir hatten das ja eben schon beschrieben: Wir hätten uns nicht mal Hallo gesagt wahrscheinlich früher und zumindest hätten wir kein Interesse aneinander gehabt. Das ist ein Effekt von Rassismus und ein anderer Effekt von Rassismus, der damit einhergeht, ist eine enorme Einsamkeit, die ich empfunden habe im Heranwachsen, weil eben genau diese Perspektive so blind gemacht wurde so mit Scham aufgeladen war und überhaupt nicht besprechbar war und ich nie jemanden hatte, mit dem ich diesen Ballast der auch du hattest gesagt: „Dass du noch am Leben bist, ist ein Wunder.“ und ich sag das oft auch: Ich fühle mich als Überlebende der Zeit vor allem was die 90er Jahre angeht und das meine ich auch so, denn viele andere haben es nicht überlebt, aber was man da alles mit sich trägt, sich nie darüber austauschen zu können und nie jemanden zu sehen, dem es ähnlich geht und ich immer in seinem Schwarzsein verstecken zu müssen oder sich als Person verstecken zu müssen, sich klein machen zu müssen, diese Last der Einsamkeit ist ein Teil von Rassismus und darüber zu sprechen und zu merken „So, wir haben da doch was gemeinsam.“, ist unglaublich befreiend.
Katharina Warda beim tazlab, 27.04.2024
Patrice Potrous meinte, wenn man andere PoCs getroffen hat, dann hat man nicht gesagt: „Hey, Du bist ja Schwarz. Wie ich. Wie geht es Dir?“. Bei der Veranstaltung, die danach auf derselben Bühne stattfand, war Prof. Dr. Naika Foroutan, Soziologin an der Humboldt-Universität zu Berlin, zu Gast. Sie hatte ja 2018 Ossis und Migrant*innen verglichen (taz, 13.05.2018).
Prof. Dr. Naika Foroutan, Soziologin an der Humboldt-Universität zu Berlin beim tazlab, Berlin, 27.04.2024
Daran musste ich denken, als ich neulich eine Frau in einem Klimacamp Thüringisch sprechen hörte. Ich sprach sie an, ob sie aus dem Osten sei, wegen ihrem Dialekt. Sie entschuldigte sich und sagte, dass sie den manchmal nicht unterdrücken könne. Ich war schockiert, denn ich bin ja aus Jena und habe mich sehr gefreut, jemanden zu treffen, der Dialekt spricht. Ich denke, dass das dasselbe Phänomen ist, obwohl die Gefahren, die sich aus einer nicht-weißen Haut und einem nicht westdeutschen Sprache ergeben, nicht zu vergleichen sind.
Ganz ähnlich hatte Oschmann auch über das Sächsische geschrieben:
Und schon vor 1989 ist das Sächsische als die am deutlichsten im Ostteil des Landes zu verortende Sprachvarietät in der öffentlichen Wahrnehmung zum Inbegriff des gesamten Ostens »aufgestiegen«, das heißt zum Inbegriff des Hässlichen, Schlechten, Unfähigen und Ungebildeten, zum Inbegriff all dessen, was man nicht haben will und was man selbst nicht zu sein glaubt. Ich habe in Sachsen aufgewachsene Bekannte, die Schulungen belegt haben, um lupenreines Hochdeutsch zu erlernen, weil sie schmerzlich erfahren mussten, wegen ihres Heimatidioms unablässig diskriminiert zu werden und gesellschaftlich chancenlos zu sein. Dazu passt eine Dresdner Zeitungsannonce aus den Neunzigerjahren: »Sächsischer Dialekt in der freien Marktwirtschaft? Undenkbar! Nehmen Sie Sprechunterricht!« Thomas Rosenlöcher teilt das mit und markiert das Sächsische prägnant als »Verliererspache«. Ganz auf dieser Linie habe ich meinen eigenen Kindern angedroht, ihnen das Taschengeld zu streichen, sollten sie je anfangen, Sächsisch zu sprechen. Wie schlimm aber ist es um eine Region bestellt, die nicht mehr wagt, ihre Sprache zu pflegen, weil sie Sanktionen aller Art, mehr noch die Beschädigung ihrer gesamten Existenz fürchten muss?! Was ist das für ein gesellschaftliches Klima, was für ein Land, in dem ein großer Teil der Menschen die eigene Muttersprache ablegen und die eigene Herkunft verleugnen muss, wenn er gesellschaftlich der Stigmatisierung entgehen möchte? Was für ein Land, in dem sich Menschen ihrer Sprache, ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit schämen sollen, mithin zentraler unhintergehbarer Existenzialien, was für ein Land, in welchem sie sich ausgerechnet von dem distanzieren sollen, was sie fundamental ausmacht und allererst in der Welt beheimatet?
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten – eine westdeutsche Erfindung, Ullstein.
Ossis versuchen, nicht aufzufallen. Wie man dem Roman von Lutz Seiler Stern 111 entnehmen kann, wurde ihnen das auch von Wessis explizit beigebracht. Sein Vater, der fünf Programmiersprachen konnte und im Westen Schulungen durchgeführt hat, sollte unbedingt darauf achten, dass die Schulungsteilnehmer*innen nicht merkten, dass sie etwas von einem Ossi erklärt bekamen. Einem Ossi! Für 1000 DM/Tag kriegt man nur einen Ossi. Über die Vorstellung, dass die Ossis alle doof waren, und die Verwunderung darüber, dass jemand im Osten (!) fünf (!) Programmier(!)sprachen(!) konnte, habe ich auch in Wissen, Unwissen, Ignoranz und Arroganz geschrieben.
Man sieht den Ossis ihre Herkunft weniger an als PoCs, aber manche „verraten“ sich halt über die Sprache. (1995 war ein Kollege von mir total geschockt, weil er, nachdem wir eine Woche zusammen gearbeitet haben, herausgefunden hatte, dass ich ein Ossi bin. Ich hatte „Plaste“ gesagt.) Sprache oder Haare, beides nicht gut und vielleicht kommen wir ja irgendwann in einer Gesellschaft an, die das verstanden hat. Und alle Kinder bekommen Taschengeld und Liebe, egal wie sie aussehen oder sprechen.
Mode unter Lebensgefahr?
Peggy Kurka und Katharina Warda waren Punks, was sicher kein Spaß war. Schon als weißer Punk hatte man es nicht unbedingt leicht. Peggy Kurka war außerdem noch Model. Sie sprach davon, dass Mode in der DDR subversiv gewesen ist und dass man unter Todesdrohung lebte. Sie erwähnte auch die Modegruppe Allerleirauh:
Ich nehme jetzt mal mein Feld: Man hat, es gab Allerleirauh, es gab eine Modenschau, wenn die eine Modenschau gemacht haben, dann haben die ihr Leben riskiert für diese Modenschau.
Peggy Kurka: tazlab Ossis of Colour, 27.04.2024, Stelle im Viedeo
Mich und die beiden Ost-Frauen, die anwesend waren, hat das einigermaßen verwundert, denn die Ost-Mode hatte ziemlich große Freiheiten. Es gab die Sibylle, in der immer in sehr guten Fotostrecken abgedrehte Mode präsentiert wurde. Eine meiner Begleiterinnen war mit den Kindern der Mitarbeiter*innen vom Modeinstitut im Ferienlager und berichtete auch von den großen Freiräumen im Modebereich.
Ich habe spezifisch zu Allerleirauh in der Wikipedia nachgesehen und – Was soll ich sagen? – die Aussage von Peggy Kurka ist einfach falsch. Allgemein würde ich behaupten wollen, dass in den 80er Jahren niemand mehr einfach so ermordet wurde und schon gar nicht für Mode. In Wikipedia kann man lesen, dass Katharina Reinwald und Angelika Kroker 1988 in den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) aufgenommen wurden. Leider hat der Präsident des VBK im Jahr 1988 gewechselt, so dass man nicht genau sagen kanne, wer den VBK zur Zeit des Eintritts der beiden Designerinnen geleitet hat. Von 1974 bis 1988 war der wegen seiner schinkenlastigen Arbeiter*innengemälde allseits gefürchtete Willi Sitte Präsident (Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt.). Danach der Designer Clauss Dietel. Von 1986 bis 1989 war Sitte Mitglied des Zentralkomitees der SED (ZK der SED). Clauss Dietel war Mitglied der Bezirksleitung der SED in Karl-Marx-Stadt. Das heißt, der VBK war fest in SED-Hand, wie eigentlich alle größeren Strukturen und Vereine. Man kann also sicher ableiten, dass die Modedesigner*innen ihrem Beruf nicht unter Einsatz ihres Lebens ausübten.
Dem Artikel über Allerleirauh kann man entnehmen, dass die Gruppe große Auftritte hatte:
Als Höhepunkt gilt das Allerleirauh-Happening im Jahr 1988, das an drei Abenden vor 600 Zuschauern im ausverkauften Haus der jungen Talente in Ost-Berlin stattfand. Die Rockband Pankow spiele live, die Mannequins traten in Mänteln aus Lederflicken und geschuppten 3‑D-Kleidern auf.
Wikipedia-Eintrag für Allerleirauh, 28.04.2024
Das HdjT war staatlich verwaltet. Niemand, der schon mit einem Bein im Knast stand konnte dort auftreten. Die Rockgruppe Herbst in Peking hatte zum Beispiel nach einer Schweigeminute für die Opfer des Massakers am Tian’anmen-Platz Auftrittsverbot. Das heißt, dass Allerleirauh staatlich anerkannt war und es heißt auch, dass diese Mode-Designer*innen und Models sich nicht irgendwelchen Gefahren ausgesetzt haben.
Ein Schulfreund von mir war Ensemblemitglied beim Modetheater Larifari, das auch im Wikipediaeintrag von Allerleirauh erwähnt wird. Er hat mir zum Thema Folgendes geschrieben:
Ich kann das, wie auch du, so nicht bestätigen. Meine Tätigkeit war beim Modeinstitut und bei einer freien Truppe namens Larifari. Natürlich waren wir stasidurchsetzt, was ich zu DDR-Zeiten nicht wahrhaben wollte, später dann offensichtlich wurde. Mein Ausschluss aus beiden vorgenannten 1987 scheint damit in Zusammenhang gestanden zu haben – ich habe das nicht weiter recherchiert, bisher nicht in die Akte schauen wollen. Die Szene und der Bedarf waren sicher nicht zu verhindern, so gab es die Ventilmethodik. Ich kann mich gut an 1986/87 erinnern. Wir sind durch die Lande getingelt und als Farbtupfer willkommen gewesen, das sogar auf den Arbeiterfestspielen. Eine unserer Damen war sogar im Zentralrat der FDJ. Hast du den Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ gesehen? Für mich war er ein Ausflug in meine Jugend – logischerweise alles sehr komprimiert, Stasi an Frank Schäfer – klar, aber auch viele Freiheiten und knallharte Konkurrenz, was sicher gewisse Äußerungen motiviert. Sybille war nicht so nah am Modeinstitut, wie es der Film sagt. Eine mir suspekte Szene mit Grenzhunden an der Ostsee wollte ich bei Gelegenheit hinterfragen. Ein Trachten nach Leben ist mir nicht bekannt.
Email 30.04.204
Ich kann es nicht direkt nachweisen, aber es sollte mich sehr wundern, wenn irgendwer in der DDR wegen Mode mit dem Tode bedroht worden sein sollte oder ins Gefängnis kam. Nein, man kam in die Sibylle.
(Was Peggy Kurka vorher im Video über abweichende Meinungen in der DDR sagt, stimmt. Es wurde alles unterdrückt, aber ganz so krass war es dann doch nicht.)
Schlussfolgerung
Liebe Wessis, liebe Ossis, liebe Nachgeborene: Die Messitsch ist simpel. Glaubt uns nicht. Auch wenn die Stories zu Euren Geschichten und Klischees passen. Die DDR ist nun zum Glück lange Geschichte, aber Erinnerungen verschieben sich und manche Menschen erzählen auch bewusst falsche Dinge. Guckt einfach mal in Wikipedia nach. Das ist die Schmalspurvariante der historischen Forschung, aber Wikipedia gibt ja immer Quellen an. Da könnt Ihr dann weitermachen.
Quellen
Oschmann, Dirk. 2023. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein Buchverlage.
In der taz vom 22.04.2024 gibt es einen Artikel über rechte Richter von Gera. Besprochen wird, dass zwei Richter Asylanträge signifikant häufiger ablehnen, als das im bundesweiten Durchschnitt der Fall ist.
In einem „Forderungspapier zur Justiz in Thüringen“ aus dem April 2022 beklagen neun Vereine aus der Flüchtlingshilfe eine „Entscheidungspraxis“ des Verwaltungsgerichts Gera in Asylverfahren, die „mindestens eine tendenziöse Rechtsprechung vermuten lässt“. Unter Rechtsanwälten sei es ein „offenes Geheimnis“, dass es dort fast unmöglich ist, Asylverfahren afrikanischer Kläger zu gewinnen. Im Fadenkreuz der Kritik stehen die Richter Fuchs und Amelung. MDR-Recherchen und eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag bestätigen die Praxiserfahrungen der Anwälte und Flüchtlingshelfer.
Außerdem sind Richter desselben Gerichts für Genehmigungen von Nazi-Veranstaltungen zuständig:
Die Asylrechtssprechung ist aber nicht der einzige Bereich, der in Gera Fragen aufwirft. Auch die Entscheidungspraxis des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Gera, Michael Obhues, als Vorsitzender der 1. Kammer ist politisch umstritten. Diese hat einer Neonazi-Gruppe und der NDP (heute „Die Heimat“) über Jahre erstaunlich viel Raum für Demonstrationen, Protestaktionen und rechte Rockkonzerte eröffnet.
In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe „Thügida/Wir lieben Ostthüringen“ durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter.
Typisch für diese Gerichtsbeschlüsse ist, dass die Kammer den Vorträgen der braunen Anmelder eher glaubte als denen des Oberbürgermeisters – wenn sie zum Beispiel vorgaben, mit Demos die Meinungsfreiheit zu verteidigen oder gegen „linken Terror“ zu protestieren, obwohl sie tatsächlich Hitler oder Heß huldigen wollten. Dass die offiziell genannten Demonstrationsziele nur zur Tarnung vorgeschoben waren und die Proteste in Wirklichkeit Tarnversammlungen für braune Anliegen waren, hielten die Verwaltungsrichter in Gera für nicht hinreichend belegt.
Und wie Joachim Wagner feststellt: „Die Folge dieser Spruchpraxis: Zwischen 2006 und 2016 hatte sich Jena zur einem Protesteldorado für NPD und Neonazis entwickelt.“
Dasselbe Gericht hat entschieden, dass die AfD nicht wirklich verfassungsfeindlich sei, obwohl der Verfassungsschutz, der sich ja mit der Einordnung von Parteien als rechtsextrem auch nicht leicht tut, das nach jahrelanger Detailarbeit inzwischen herausgefunden hatte. Ein AfD-Sportschütze durfte seine Waffe behalten:
Hier kam die Kammer im August 2023 nebenbei zum Ergebnis, dass die Verfassungsschützer bislang nicht „tragfähig nachgewiesen“ hätten, dass der Thüringer AfD-Landesverband „erwiesen rechtsextremistisch“ sei. Der AfD-Sportschütze durfte seine Waffenbesitzkarte vorerst behalten.
Sehr guter Artikel. Es fehlten nur einige Details, die im Ost-West-Diskurs aber sehr wichtig sind: Wer sind diese Richter? Wo kommen sie her? Dr. Bengt-Christian Fuchs, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Gera, ist laut linkedIn-Profil Bankkaufmann und hat 1984–1986 in Hannover und London gearbeitet. Er ist außerdem Oberstleutnant der Bundeswehr. Dr. Bernd Amelung hat von 1982–1989 an der Georg-August-Universität Göttingen sein erstes Staatsexamen in Öffentlichem Recht gemacht. Michael Obhues, Präsident des Verwaltungsgerichts Gera, wurde in Erwitte/Westfalen geboren. Er studierte 1986–1992 an der Universität in Münster Rechtswissenschaften. Details zu seiner Karriere als Jurist findet man in den ThürVBl. 8/2006, S. III.
Steffen Mau hat in Lütten Klein festgestellt, dass Richter*innen im Osten meistens aus dem Westen sind:
In den wenigen Bereichen, wo die Ostdeutschen aufholen konnten, reden wir von Fortschritten im niedrigen einstelligen Prozentbereich: in der Richterschaft insgesamt von 11,8 auf 13,3 Prozent, bei den Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichte sowie den Vorsitzenden Richtern der einzelnen Senate von 3,4 auf 5,9 Prozent. Jeweils in Ostdeutschland wohlgemerkt, nicht bundesweit.
Und so ist es auch in diesem Fall. Was ich mir von der taz wünsche, ist, dass die Herkunft von Nazis oder von Menschen, die Nazi-Aktionen ermöglichen, angegeben wird. Das ist wichtig, weil durch die Berichterstattung ohne diese Information das Klischee verfestigt wird, dass im Osten alles Nazis seien. Hier am konkreten Fall von Jena kann man sehen, dass die Wähler*innen einen SPD-Bürgermeister gewählt haben, der sich redlich mühte, die Nazis aus der Stadt zu halten, was aber durch Richter*innen aus dem Westen torpediert wurde.
Nach der Wende wurde die komplette Justiz und Polizei und auch der Verfassungsschutz von Westlern aufgebaut. Wie wir jetzt wissen, waren viele der involvierten Personen extrem rechts. (Maaßen war der gemäßigte Ersatz für jemanden, der mit dem NSU zu gut klargekommen war, und was Maaßen denkt, wissen wir ja nun ziemlich genau. Seine eigene Behörde stuft ihn als rechtsextrem ein.) Nazi-Parteien sind gezielt in den Osten gegangen, um dort Strukturen aufzubauen (siehe „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern“: Kommentare zu einem Aufsatz von Patrice G. Poutrus, Jan C. Behrends und Dennis Kuck). Das alles sollte man wissen, wenn man darüber nachdenkt, warum die Machtverhältnisse im Osten jetzt so sind, wie sie sind. Der blühende Faschismus im Osten ist sicher nicht darauf zurückzuführen, dass wir Ossis alle nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hätten (Pfeiffer) und auch Anne Rabes Geschwafel von der Gewalttätigkeit in der DDR ist Unfug, wie ich in vielen Blog-Posts nachgewiesen habe (Sie interpretiert die Kriminalstatistik falsch. Aussagen über Amokläufe in Schulen sind falsch usw. usf.). Auch in Lichtenhagen waren am dritten Tag West-Nazis vor Ort und die gesamte verantwortliche Führung (Regierung und Polizeileitung) war trotz vorheriger Ankündigung der Ausschreitungen in Zeitungen im Wochenende und nicht erreichbar (Post dazu). Zu Anne Rabes Behauptungen siehe die Übersichtsseite mit Blogposts.
Man stelle sich nun die Gefühle eines antifaschistischen Menschen vor, der solche Artikel liest. Sie denkt: Erst kommen sie her und besetzen alle Stellen in der Verwaltung, um uns Ossis zu zeigen, wie es geht. Dann legen sie die komplette Industrie still, weil sie die Treuhand-Anstalt auch übernommen haben (Kahla Thüringen Porzellan wurde für 1 DM an einen windigen Rechtsanwalt verkauft, dessen einzige Qualifikation ein Bruder bei der Treuhand war.). Dann kommen Westler, gründen eine rechte, wirtschaftsliberale Partei, wo auch fast die gesamte Führung der ostdeutschen Landesvorstände in West-Hand sind (siehe Der Ossi ist nicht demokratiefähig. Merkt Ihr’s noch?). Dann radikalisiert sich diese Partei und die Gerichte im Osten, die mit Westler*innen bestückt sind, protegieren das. Den Ossis wird nach erfolgreichem Aufbau der Strukturen durch Westler vorgeworfen, dass sie alle Nazis seien. Und wenn dann über den Osten berichtet wird, werden die relevanten Fakten über die Herkunft der entsprechenden Nazis oder ihre Beschützer*innen nicht genannt und das Klischee weiter vertieft.
Die taz hat sich in den letzten Wochen und Monaten extrem verbessert, was die Berichterstattung über den Osten angeht. Wahrscheinlich hängt das auch mit dem kommenden taz-Lab zum Thema Osten zusammen. Ein besonderes Highlight ist der Beitrag von Dr. rer. pol. Ute Scheub Demokratie resonant machen über den Anschluss der DDR und vertane Chancen bei der Ausarbeitung einer gemeinsamen Verfassung.
Zu einer Sache, die immer wieder passiert und die viele Ossis ärgern dürfte und die auch jetzt noch – trotz geschärfter Sinne – passiert, möchte ich etwas sagen. Frankfurt. In der taz vom 20.04.2024 schreibt Bernd Pickert zum Thema Mixed Martial Arts (MMA):
Da ist Katharina Dalisda aus Frankfurt, studierte Sportökonomin mit Bürstenschnitt und Blumenkohlohren, eine der aufstrebenden Frauen in den deutschen MMA,
Katharina Dalisda ist aus Frankfurt am Main. Der Fluss wird aber nicht genannt. Es gibt in der BRD zwei Frankfurte: Frankfurt am Main und Frankfurt an der Oder. Das Problem ist, dass das Ost-Frankfurt komplett ignoriert wird. Nun könnte man sagen, Frankfurt/M. ist viel größer, ein industrielles, kulturelles und politisches Zentrum and nothing important ever came from Frankfurt (Oder). Aber das ist nicht richtig: Frankfurt O. war eine der 15 Bezirkshauptstädte in der DDR und ist aus Sicht der taz von Berlin aus viel näher gelegen. Das könnte die Wichtigkeit des anderen Frankfurts ausgleichen, aber selbst wenn man das nicht weiß oder wenn es einem egal ist, sollte man doch als Journalist, der zum Thema Spor, insbesondere Mixed Martial Arts, schreibt, schon von Frankfurt gehört haben.
Frankfurt O. war und ist eine Sportstadt. Der Armeesportklub Frankfurt hat zu DDR-Zeiten dort trainiert und es gibt dort jetzt auch einen Bundeswehrsportstützpunkt. Massenhaft Olympiasieger kommen aus Frankfurt O. Sieger*innen im Boxen, im Judo und im Ringen (siehe Sportzentrum Frankfurt). Allen, die in den 90ern irgendwas mit Sport zu tun hatten, dürften Henry Maske und Axel Schulz ein Begriff sein, die beide aus der Boxtradition hervorgegangen sind (trainiert von Manfred Wolke). Auch Menschen, die ansonsten mit dem Boxen nichts am Hut hatten, kannten die beiden. Ihre Boxkämpfe hatten Rekordeinschaltquoten.
Also, wenn eins der beiden Frankfurts hier der Default ist, dann ist es wohl Frankfurt O. Da Katharina Dalisda aus Frankfurt/Main ist, hätte das kenntlich gemacht werden müssen.
Es ist eine Kleinigkeit, aber diese Kleinigkeit zeigt: Der Osten ist in den Redaktionen nicht präsent. Viele Menschen gendern, weil sie es nicht ausreichend finden, dass Frauen nur mitgedacht werden anstatt mitrepräsentiert und mitgenannt zu werden. Der Osten, selbst wenn er direkt vor der Tür liegt, wird nicht mitgedacht. Über den Osten wird bzw. wurde nur geschrieben, wenn es irgend etwas Negatives zu vermelden gibt. Das ändert sich gerade bei der taz so ein bisschen. Hoffen wir, dass das auch nach dem taz-Lab so bleibt.
In der Wochenendausgabe zum taz-Lab gab es eine Korrektur. =:-)
Ich dachte, ich sei fertig mit Anne Rabe (siehe Posts in Kategorie Anne Rabe), aber ich wollte die Sendung Zwischentöne mit ihr noch mal komplett hören. Es ist wirklich erschütternd, wie wenig Anne Rabe über die DDR weiß. Da ihre Gesprächspartner*innen meist aus dem Westen sind, bleiben ihre Aussagen auch unwidersprochen und werden weiterverbreitet.
Waschmaschinen
Anne Rabe behauptet, in der DDR hätte es keine Waschmaschinen gegeben.
Tatsächlich auf jeden Fall weiß ich, dass meine Mutter zu der Zeit allein gelebt hat mit uns, weil mein Vater noch woanders studieren war und das ist was, worüber ich manchmal so nachdenke, weil tatsächlich, also diese tatsächliche materielle Armut besonders für die Frauen so in den 80er Jahren ein ziemlich hartes Leben bedeutete, so ohne Waschmaschinen, ohne Badezimmer, also dieses Windeln auskochen, ohne das, was wir heute alles so haben und die Kinder eben sehr früh morgens in den Kindergarten bringen und dann weiter zur Arbeit. Also das ist was, worüber ich manchmal nachdenke, dass das doch ein sehr, sehr anstrengendes Leben gerade für junge Mütter war.
Anne Rabe im Interview in den Zwischentönen
Wikipedia schreibt zum Thema Waschmaschinen:
Die WM 66 war eine Waschmaschine, die in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ab 1966 gebaut und verkauft wurde. Die Bezeichnung WM stand für Wellenradwaschmaschine. Aufgrund der einfachen technischen Konstruktion war sie vergleichsweise preiswert und gekennzeichnet durch leichte Bedienbarkeit, eine kompakte Bauform, sehr geringe Stör- und Fehleranfälligkeit sowie eine lange Lebensdauer. Dies trug dazu bei, dass sie sowohl für den DDR-Markt als auch für den Export millionenfach produziert wurde. Die weite Verbreitung der WM 66 machte sie zu einem der bekanntesten Elektrohaushaltsgeräte in der DDR und zum Symbol für den Anstieg des Lebensstandards, der ab dem Ende der 1960er und dem Beginn der 1970er Jahre die soziale Entwicklung in der DDR kennzeichnete. Hersteller war der VEB Waschgerätewerk Schwarzenberg – Betrieb des Kombinates Haushaltsgeräte.
Wikipedia-Artikel zur WM 66.
Und so sah sie aus:
WM 66 mit einem Paket Spee, einem bekannten Waschmittel in der DDR, Bild aus Wikipedia CC0.
Meine Eltern hatten auch eine Waschmaschine. Sogar einen Waschvollautomat. Meine Mutter hat damit meine Hosen geschrumpft, weshalb ich mich genau daran erinnern kann. Die Waschmaschine stand im Bad. Eine Trommelwaschmaschine. Ein Toploader. Wir sind 1976 in die Wohnung gezogen. Da war sie schon da. Nach Auskunft meiner Mutter war es eine WVA66. Meine Mutter hatte sie zu meiner Geburt (1968) von meinem Großvater bekommen. Die hatte 2800 Mark gekostet, was viel, viel Geld war, aber mein Opa war Ingenieur bei Zeiss. Wikipedia schreibt zu diesem Gerät:
1966 wurde ein Waschvollautomat ohne Bodenbefestigung in Schmalbauweise mit der Typbezeichnung WVA 66 (Nachfolgegerät WVA 68) vorgestellt. Die Beschickung der Waschtrommel mit Wäsche erfolgte von oben (Toplader). Die Behälterbaugruppe mit Antriebssystem war schwingbeweglich in Federn zur Kompensation der Unwuchtkräfte während des Schleuderganges aufgehängt, sodass das Gerät ohne Bodenbefestigung betrieben werden konnte. Die Schleuderdrehzahl betrug 850/min. Das Gerät war auf ausfahrbaren Laufrollen ortsbeweglich.
Wellenradwaschmaschinen gab es ab 640 Mark. Ich hatte auch selbst so eine Wellenradwaschmaschine, als ich eine eigene Wohnung hatte (1989). Das Rad am Boden riss alle Knöpfe ab. Wikipedia: „Nachteil des Wellenradsystems ist der relativ hohe Wäscheverschleiß, da die Wäsche teilweise auch vom rotierenden Wellenrad erfasst wird.“ Aber Windeln und Karate-Anzüge haben keine Knöpfe, dafür waren sie auf alle Fälle geeignet. Die Schleuder war extra. Als Student hatte ich das Geld, was ich als Stipendium bekam. Das waren 300 Mark, weil ich bei der Armee gewesen war. Sonst lag es bei 200 Mark. Ich weiß nicht, wo ich die Waschmaschine her hatte. Kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Geld ein Problem gewesen wäre. Vielleicht habe ich sie gebraucht gekauft oder geschenkt bekommen von jemandem, der sich eine bessere gekauft hat.
Welcher DDR-Bürger kennt diese Waschmaschinen nicht. Der Name Schwarzenberg war ein Begriff.
1961 entstand der Waschvollautomat WVA 61. 1966 die WVA 66 mit Schleudergang, 1987 der Waschvollautomat VA 68‑E.
Die erste Waschmaschine vom Typ „WM 66“ wurde ab 1966 hergestellt. Die Maschine konnte weder spülen noch schleudern. Die Bezeichnung WM steht für Wellenradwaschmaschine. Die Hausfrau benötigte zum Schleudern eine Tischschleuder.
Auf der Museumsseite gibt es Bilder der verschiedenen Modelle und der Schleudern. Auf der Wikipedia-Seite des Waschgerätewerks Schwarzenberg findet man Information zu den verkauften Stückzahlen. Anne Rabe scheint die einzige DDR-Bürgerin zu sein, die diese Waschmaschinen nicht kennt. Vielleicht hatte ihre Mutter die Maschine im Keller und hat das vor ihrer Tochter geheim gehalten. Anders ist das nicht zu erklären. Vielleicht hatten sie auch wirklich keine, obwohl es eine Funktionärsfamilie mit zwei arbeitenden Erwachsenen und einem Funktionärsgroßvater waren, aber dann müssen sie das Geld irgendwie anders verplämpert haben.
Übrigens: Es gab in der DDR Ehekredite, die man „abkindern“ konnte. Die waren genau für solche Dinge wie Waschmaschinen gedacht.
Zwischen 1972 und 1988 wurden 1.371.649 Ehekredite mit einem Gesamtvolumen von 9,3 Milliarden Mark vergeben, von denen etwa ein Viertel „abgekindert“ wurde.
Die Ehekredite gab es für Paare, „deren gemeinsames Einkommen bei Eheschließung nicht über 1.400 Mark lag“. Rabe sagt, dass ihre Mutter gearbeitet hat. Ihr Vater hat vielleicht ein Stipendium bekommen. Entweder, sie haben über 1400 Mark verdient, dann konnten sie eine Waschmaschine kaufen oder sie haben weniger verdient, dann hätten sie einen Kredit über 5000 Mark bekommen, von dem sie nur 2500 Mark hätten zurückzahlen müssen. Das wäre praktisch ein geschenkter Waschvollautomat gewesen.
(Nachtrag: 09.04.2024 Peer hat mich auf folgende Information zur Verbreitung von Waschmaschinen hingewiesen:
1986 befanden sich in 94,4 Prozent aller DDR-Haushalte Waschmaschinen, davon ca. 13 Prozent Waschvollautomaten, ca. 40 Prozent Waschautomaten und ca. 47 Prozent Bottichwaschmaschinen; Hans-Joachim Scheithauer u. Michael Laue, Moderne Waschmaschinen – sparsame Helfer im Haushalt, in: Energieanwendung 37, 1988, H. 6, S. 229ff., hier S. 229; Statistisches Amt der DDR (Hg.), Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Berlin 1990, S. 324f.
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Diese Verbreitung entspricht in etwa der heutigen Verbreitung in der Bundesrepublik, die bei 96,2% liegt.
Das bedeutet, so die Aussage über „tatsächliche materielle Armut“ und die fehlende Waschmaschine in der Familie Rabe denn korrekt ist, dass diese Familie sehr speziell war. Aber diesen Verdacht hatte ich ja schon mehrfach und Rabe selbst äußert sich ja auch so bzgl. der Gewalt in ihrer Familie.)
Homosexualität
Im Interview in den Zwischentönen beschreibt Anne Rabe, wie sie festgestellt hat, dass der Sozialismus der DDR ganz schrecklich war:
Rabe: Eigentlich gab es einen Moment, einen Auslöser, an den ich mich sehr gut erinnere und zwar war ich so mit 18, Silvester in Hamburg und war dann mit meinem Freund damals im Kino und wir haben den Film geguckt von Julian Schnabel, Before Night Falls. Ein ganz toller Film, den ich sehr empfehlen kann, über den kubanischen Schriftsteller Reynaldo Arenas, einen homosexuellen Schriftsteller, der deshalb auf Kuba verfolgt wurde für seine Homosexualität. Und das war ein sehr berührender Film, da gibt es dann auch so Verschnitte mit vielen Castro-Reden über Homosexualität und das war der Moment, ich konnte hinterher gar nicht aufstehen aus dem Kinosessel, wo mir so bewusst wurde, dass das, ich bin mit einem sehr positiven DDR-Bild, einem sehr positiven Bild vom Sozialismus und auch so sehr naiv damals noch so im Sinne von „Das wäre eigentlich die Lösung für die Probleme unserer Zeit jetzt.“ aufgewachsen, hatte nicht viel gehört über die Abgründe dieses Systems und das war für mich dann klar, ach so, das ist alles ganz, ganz anders und ich selbst wusste damals auch schon eben, ich bin nicht heterosexuell, ich bin selber queer, für mich gäbe es da keinen Platz vielleicht oder das wäre infrage gestellt und das war so ein ganz, ganz berührender Moment, der mich richtig geschockt hat und da war mir klar, ach nee, hier stimmt eigentlich gar nichts.
Schwarz: Mit 18, im Jahr 2002, nee 2004.
Rabe: Genau und dann habe ich tatsächlich angefangen auch darüber zu lesen und mir selbst ein Bild zu machen über die DDR, über das, was da so alles so los war und dann gerät man ja relativ schnell, kommt man da auf ziemlich finstere Angelegenheiten sozusagen. Ja doch, wenn man sucht schon, also das geht schon.
Nun ist es aber so, dass die Einstellung zur Homosexualität im katholisch geprägten Kuba sicher eine andere war als in der DDR der 80er Jahre. Die DDR hatte 1968 den Paragraph 175 gegen Homosexualität lange vor der BRD (1994) abgeschafft und in den 80er Jahren gab es Schwulengruppen in der FDJ und der SED, die versuchten, den kirchlichen Gruppen, die es schon seit den 70ern gab, Konkurrenz zu machen bzw. mit denen zu kooperieren.
Man kann dazu bei der Bundeszentrale politischer Bildung nachlesen:
1988/89 kam es zur Gründung von schwul-lesbischen Gruppen bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und in Klubhäusern. In Leipzig nannte man sich „RosaLinde“, in Dresden „Gerede“. Ziel war es, ein schwul-lesbisches Engagement außerhalb der Kirche zu initiieren. Man versuchte auch, Parteimitglieder in bestehende Organisationen einzuschleusen oder dort angeschlossene Genossen für die SED-Ziele zu instrumentalisieren, beispielsweise im Sonntags-Club. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, wurde – als Konkurrenz – die Gruppe „Courage“ gegründet. Die FDJ gab allen Jugendklubs vor, einmal im Monat eine Veranstaltung zum Thema Homosexualität zu organisieren. Die unter dem Dach der SED in verschiedenen Städten gegründeten Gruppen bildeten die „Interessengruppe Theorie“, die schwul-lesbische Politik auf marxistisch-leninistischer Basis, aber auch eine Vernetzung mit den kirchlichen Arbeitskreisen anstrebte.
Ich hatte einen schwulen Klassenkameraden, der mir Infomaterial kirchlicher Gruppen zu Homosexualität gegeben hat (ca. 1985). Jörg ist jetzt Pfarrer und hat es sich erkämpft, dass er mit seinem Mann im Pfarrhaus wohnen darf (Mayer, 2015).
John Zinner hat sich in Lauscha, einer kleinen Stadt in Thüringen, geoutet. Er ist stadtbekannt. Das Outing war wegen seines homophoben Stiefvaters nicht einfach, aber er hat es nach einer abgebrochenen Republikflucht doch durchgezogen. Das kann man in einem Artikel in der Zeit von 2016 nachlesen.
Kneipen
Wir wussten von Schwulentreffs in der DDR. Von einem Lokal an der Schönhauser Allee Ecke Kastanienallee hat mir mein Mathelehrer erzählt. Den Namen habe ich leider vergessen. Wahrscheinlich war es das Cafe Schönhauser. Es gab die Offenbachstuben. Die Prenzlauer-Berg-Nachrichten schreiben über schwule Treffpunkte:
Nach der Zeit vor der Wende befragt, fallen Patrick mehrere legendäre Locations für schwules Publikum ein: „Es gab das Café Schönhauser, die Schoppenstube und den Burgfrieden“, zählt er auf. „Der Film Coming Out wurde in diesen Kneipen gedreht“, weiß Walter zu berichten. Und das war ein wahrer Meilenstein: Coming Out (Regie: Heiner Carow) war der einzige Film mit zentral schwuler Thematik, der in der DDR je produziert wurde – im November 1989 kam er in die Kinos. Auch (Ost-)Berlins bekannteste Trans*-Person, Charlotte von Mahlsdorf, ein Name, der im Laufe des Abends häufiger fällt, hatte eine Rolle in Coming Out.
In Könne (2018) wird angemerkt, dass es in Ost-Berlin viel weniger Schwulen-Kneipen gab als vor dem Krieg. Dazu muss man allerdings wissen, dass es in Ost-Berlin insgesamt eine Unterversorgung mit Kneipen gab. Man müsste das also ins Verhältnis zur Gesamtkneipendichte setzen, wenn man irgendetwas daraus ableiten will.
Papier
Könne (2018) schreibt zu Papierkontingenten:
Selbst Papierkontingente für Flugblätter wurden staatlicherseits nicht genehmigt.
Das hört sich für Nicht-Ossis oder Nachgebohrene sicher nach schlimmer Unterdrückung an. Die fehlende Hintergrundinformation ist, dass es einen extremen Mangel an Papier gab. Die meisten Druckerzeugnisse waren so genannte Bückware. Man konnte nicht ohne weiteres Abos für Periodika abschließen. Ich habe jahrelang für meine Mutter auf dem Schulweg am Bahnhofskiosk versucht, die Für Dich und die NBI zu ergattern. Ich war früh um 7:00 dort und es hat meistens geklappt. Wenn ich es verbaselt hatte, war meine Mutter sauer.
Titelseite der DDR-Frauenzeitung Für Dich von 1979. Die DDR hat Verwundete aus Namibia in Berlin-Buch im Klinikum betreut. Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Das Mosaik habe ich auch meistens bekommen, aber meine Sammlung hatte auch Lücken.
Das Magazin (monatlich erscheinende Zeitschrift mit Geschichten und Akt-Bildern)
Wenn also der Staat den Schwulen- und Lesben-Verbänden Papier genehmigt hätte, dann hätte das bedeutet, dass er Homosexualität nicht nur nicht behindert, sondern auch fördert. Das passte nun aber gar nicht ins System. Wieso sollte der Staat etwas fördern, das er nicht unter Kontrolle hatte und das ihm eventuell Schwierigkeiten bereiten würde? Gefördert wurden eigene Massenorganisation oder Gruppen, die die eigene Ideologie propagierten.
Vervielfältigungsmaschinen und Papier gab es nicht. Ich habe eine Zeitschrift, die ich mit einem Freund gemacht habe, auf NVA-Druckern ausgedruckt. Der Telegraph wurde mit Uralt-Druckwalzen vervielfältigt.
Stasi
Könne (2018) schreibt, dass die Stasi Schwulen- und Lesbenverbände bespitzelt hat. Das hört sich schlimm an und es war auch schlimm, aber als Hintergrundinformation muss man wissen, dass alle Gruppierungen, die sich gebildet haben, von der Stasi unterwandert und beobachtet wurden. Allen war klar, dass bei einem Treffen von drei Leuten, einer bei der Stasi war. Manche, wie zum Beispiel Vera Wollenberger, hatten die Stasi mit im Bett. Da war sie sogar in Zweiergruppen dabei. Das war die DDR. Ein Staat, der seiner Bevölkerung nicht traute und sie lückenlos überwacht hat.
Kurt Demmler am 4.11.1989: Irgendeiner ist immer dabei
Die Schwulen- und Lesbenverbände haben das einzig Richtige getan: Sie haben die Stasi mit offenen Armen empfangen. Siehe Stapel (2001) und taz vom 12.10.1993 zur Stasi-Bespitzelung.
Einstellung zu Homosexualität in Aufklärungsbüchern und der Wissenschaft
Im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ gibt es ein Kapitel zur Homosexualität, das im Wesentlichen dem entspricht, was fortschrittliche Menschen heute über Homosexualität denken. Das Buch ist 1971 erschienen und wurde wiederholt unverändert nachgedruckt. Mir liegt die 12. unveränderte Auflage von 1979 vor. Meine Ausgabe ist aus dem Verlag Volk und Gesundheit, Berlin. Nach Wikipediaeintrag des Autors Schnabl ist es vorher 1969 in Rudolstadt und auch als geringfügig gekürzte Lizenzausgabe 1969 in der BRD veröffentlicht worden. Das Buch wurde ins Tschechische (1972), Bulgarische (1979) und Russische (1982) übersetzt. Bis 1990 hatte das Buch 18 Auflagen.
Sexualratgeber von 1971 aus der DDR mit heutigen Ansichten zur Homosexualität
Da in der DDR nicht einfach irgendwer irgendwelche Bücher veröffentlichen konnte, kann man davon ausgehen, dass das die offizielle Meinung zum Thema war. Können (2018) schreibt:
Dies zeigte sich in den Ratgebern zur Sexualität für Erwachsene. So wurde 1977 Homosexualität im Aufklärungsbuch „Mann und Frau intim“ als eine von mehreren Möglichkeiten menschlicher Sexualität dargestellt. 1984 fand sich in „Liebe und Sexualität bis 30“ erstmals ein Kapitel zur Homosexualität, das diese positiv darstellte. Es ist nicht belegt, dass eine solche Änderung auch in den Unterrichtshilfen erfolgte. Im selben Jahr wurde vom Berliner Magistrat, der Ost-Berliner Stadtverwaltung, eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Humboldt Universität eingesetzt, die Konzepte erarbeiten sollte, um die Lebensumstände und Lebensbedingungen von Schwulen und Lesben zu verbessern.
DDR-weit gab es von 1985 bis 1990 drei interdisziplinäre Workshops an verschiedenen Universitäten mit dem Fokus auf homosexuellen Emanzipationsbewegungen. 1987 erschien mit „Homosexualität“ die erste populärwissenschaftliche Publikation in der DDR. 1988 produzierte das Deutsche Hygiene-Museum Dresden den Aufklärungsfilm „Die andere Liebe“. Die Broschüre zum Film informierte über die Geschichte und das aktuelle Leben Homosexueller sowie über die Kenntnisse der Wissenschaft und gab Tipps für den Alltag des Einzelnen – und speziell für Eltern und Erzieher.
Es gab ein Aufklärungsbuch für Jugendliche ab 12 Jahren: Denkst Du schon an Liebe von Heinrich Brückner.
Zu DDR-Zeiten habe ich es gelesen, es stand bei meinen Eltern im Schrank. Ich habe es mir extra jetzt noch einmal gekauft (4. Auflage von 1976). Es gibt auch in diesem Buch ein Kapitel über Homosexualität und diese wird als normale Variante dargestellt. Ich denke, dass das auch den Ansichten entspricht, die heute Stand der medizinischen Forschung sind. Einziger Unterschied ist wahrscheinlich das Schutzalter (§151), das in dem Buch noch gerechtfertigt wird, aber in der DDR auch 1988 abgeschafft wurde.
Kuba und Homosexualität
Kuba war nach der Revolution bis zu Fidel Castros Tod von diesem kontrolliert und gelenkt. Wie Rabe schreibt, gab es Reden von Castro mit homosexuellefeindlichen Äußerungen. Nach dessen Tod wurden wichtige Ämter von Raúl Castro übernommen. Interessanterweise leitete ab 1980 Raúl Castros Tochter Mariela Castro Espín das Zentrum für Sexuelle Bildung. Seit 1990 ist sie Direktorin des Centro Nacional de Educación Sexual (Nationales Zentrum für sexuelle Aufklärung – CENESEX). Sie ist LGBTQ-Aktivistin und setzt sich sehr stark für die Rechte der Homosexuellen ein. Der Cuba-Buddy, eine Tourismus-Seite mit Spezialisierung auf Kuba, schreibt:
In den letzten Jahren hat sich die Situation der LGBTQ-Gemeinschaft auf Kuba deutlich verbessert. Im Jahr 2008 wurden Gesetze eingeführt, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Die Geschlechtsumwandlung wurde legalisiert und ist für jede Kubanerin und für jeden Kubaner kostenfrei und wird vollständig von den Krankenkassen übernommen.
Im September 2022 stimmte eine große Mehrheit der Bevölkerung außerdem bei einem Referendum für eine Reform des Familiengesetzes. Damit ist die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Möglichkeit der Leihmutterschaft für homosexuelle Paare sowie Adoption und härteres Vorgehen gegen geschlechterspezifische Gewalt beschlossen worden.
Vor genau zehn Jahren, 2013 fand die erste offizielle Pride-Woche in Havanna statt, an der Tausende von Menschen teilnahmen. Seitdem erstrahlt die Hauptstadt jedes Jahr für eine Woche in den Farben der Community.
Aus wirtschaftlichen Gründen intensivierte Kuba ab den 80er Jahren den Tourismus und war deshalb auch an einer fortschrittlicheren Sicht auf Homosexualität interessiert. 2022, also ein Jahr vor dem Interview mit Rabe, wurden die Familiengesetze in Kuba modernisiert, so dass man jetzt gleichgeschlechtlich heiraten kann. Kuba hat jetzt eins der liberalsten Familiengesetze weltweit.
Kuba ist immer noch ein sozialistisches Land, ein Einparteiensystem mit einer kommunistischen Partei. Die Frage, die man sich stellen muss, ist, warum es so lange gedauert hat, bis die Gesetze geändert wurden. Und die Antwort ist, dass in solchen Diktaturen des Proletariats, also de facto Einparteiensystemen, je nach Gegebenheiten im jeweiligen Land, viel an Einzelpersonen hängen kann. Die Menschen, die, als Rabe drei Jahre alt war, an den runden Tischen saßen, waren zum Teil für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Mehr Beteiligung, weniger Überwachung. Eine eigenständige, linke, progressive DDR.
Werbung für Anti-Kohl-Demo im Dezember 1989 verschiedener Oppositionsgruppen, u.a. den Grünen und der Frauenvereinigung Lila Offensive. DDR-Museum Eisenhüttenstadt.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Familiengesetz aufgrund eines Referendums geändert wurde. Das zeigt, dass es in Kuba heutzutage eine Beteiligung des Volkes gibt. Übrigens setzt sich auch hier Mariela Castro für die Stärkung partizipativer Mechanismen ein.
Schwule und der Sozialismus
Anne Rabe leitete ja aus einem Film über einen Schriftsteller im katholischen Kuba irgendetwas über „den Sozialismus“ ab. Man hätte ja mal gucken können, wie es in der DDR war, um herauszufinden, ob das im Film Gezeigte für den Sozialismus an sich typisch gewesen war. Aber selbst wenn es in der DDR auch so schlimm gewesen wäre, wäre man noch nicht fertig gewesen. Es hätte ja sein können, dass die DDR vielleicht als Nazi-Erbe noch bestimmte spezielle homophobe Einstellungen tradiert hätte, die aber nicht zwangsläufig mit dem Sozialismus gekoppelt gewesen sein müssten. Dazu hätte man überprüfen müssen, wie es in anderen Ländern des Ost-Blocks gewesen ist. Können (2018) schreibt dazu:
Die sich in der DDR formierende Emanzipationsbewegung war durch dieselbe Filmproduktion beeinflusst wie die der Bundesrepublik und suchte sich auch später ihre Vorbilder im Westen. Solche aus der frühen Geschichte der UdSSR, wo die Strafbarkeit für Homosexualität – zwischen 1917 und 1934 – abgeschafft worden war, wurden nicht genutzt. Kontakte mit Homosexuellen aus anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks wie Polen, ČSSR oder Ungarn, in denen Homosexualität teilweise ebenfalls seit den 1960er straffrei war, sind aber ab 1987/88 bezeugt.
Das zeigt, dass die Sowjetunion, wo zumindest die spätere Hälfte des Marxismus-Leninismus herkam, schon vor 1934 eine andere Einstellung zur Homosexualität hatte als die Deutschen, die ihr 1000jähriges finsteres Kapitel da gerade erst begonnen hatten. 1934 wurde Röhm ermordet und dann war der Weg frei für die systematische Verfolgung und Vernichtung Homosexueller (Wikipedia: Homosexualität in der Zeit des Nationalsozialismus). In Polen wurde die Homosexualität sogar 1932 schon straffrei und homosexuelle Prostitution 1968 legalisiert.
Schlussfolgerung
An der DDR gab es viel zu bemängeln und ich war auch im Oktober 1989 in der Gethsemane-Kirche und habe protestiert, aber aus einem Film über das schwere Leben eines schwulen Schriftstellers in Kuba abzuleiten, dass der Sozialismus schlecht ist, halte ich für etwas gewagt. Schlimm ist es dann, wenn eine queere Person 2023, also 19 Jahre später, diese Geschichte völlig unreflektiert erzählt.
Der Sozialismus ist tot, es lebe der Solzialismus!
Anne Rabe ist Mitglied der SPD. Aus meinen verschiedenen Blog-Beiträgen sollte klar geworden sein, dass Anna Rabes Arbeit sich nicht durch Gründlichkeit auszeichnet. So hat sie wahrscheinlich auch nicht wirklich nachgeschaut, in welche Partei sie eingetreten ist. Die SPD war ursprünglich eine Arbeiterpartei. Mein Opa war drin, sein Bruder war in der SAJ, der Jugendorganisation der SPD. Er hat im KZ gesessen für Flugblätter für eine Einheitsfront aus KPD und SPD (siehe Blog-Post zu Rabes Ideen von Blutschuld). Die SPD war bis 1959, bis zum Godesberger Programm, eine marxistisch-leninistische Partei. Das haben sie dann aus dem Programm geworfen, aber sie wollen immer noch den (demokratischen) Sozialismus aufbauen (siehe Hamburger Programm, 2007). Ob das mit dem aktuellen Personal was wird, ist noch eine andere Frage, aber das ist zumindest das Ziel. Die SPD steht zur Zeit nirgendwo im Osten da, wo sie stehen könnte, in Sachsen bei 6%, und Anne Rabe ist Teil des Problems. Sie hilft dem Westen, wie Oschmann es sagen würde, sich einen Osten zu konstruieren. Mit diesen Menschen möchte im Osten niemand zu tun haben. Damit dieses Problem irgendwann im Westen ankommt, schreibe ich diese Blog-Beiträge.
Umfrageergebnisse für Sachsen 3.4.2024: https://dawum.de/Sachsen/
Zusammenfassung
Liebe Wessis, liebe dritte oder vierte Generation Ossis: Anne Rabe ist keine zuverlässige Quelle für irgendwas. Wenn Ihr sie interviewt, bereitet Euch gut darauf vor. Wenn Ihr über Ihre Aussagen schreibt, recherchiert selbst. Ihr werdet sonst auch Teil der großen Peinlichkeit.
Wölfel, Sylvia. 2012. „Planmäßige Verringerung des Bedarfs“ Die Entwicklung verbrauchsarmer Haushaltsgeräte in der DDR. Technikgeschichte 79(1). 45–60. (doi:10.5771/0040–117X-2012–1‑45)
Der Chef von Combat 18 lebt in Thüringen. Netterweise schreibt die taz jetzt aber auch schon manchmal selbst dazu, wo die Nazis eigentlich herkommen:
Die vier Männer, darunter der Anführer Stanley Röske, sollen Combat 18 gemeinsam mit anderen Mitgliedern bis mindestens 2022 weiterbetrieben haben. […] Röske ist ein langjähriger Neonazi aus Kassel, der nach Thüringen übergesiedelt war und sich auch mit Stephan Ernst umgeben hatte, dem Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Der andere Chef kommt nach Spiegel aus Dortmund bzw. nach taz aus Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen.
Im taz-Artikel wird auch Knockout 51 erwähnt. Das ist eine Naziorganisation von Menschen aus Eisenach und Erfurt. Sie wurde laut MDR vom Neonazi Patrick Wieschke (NPD, jetzt Die Heimat) aufgebaut.
Was die bürgerliche Fassade als Buchhändler und das biedere Image der Partei für manche Beobachter verdeckte: Wieschke scharrte schon zu diesem Zeitpunkt immer mehr Jugendliche aus Eisenach und Erfurt um sich, die zwar rechts, aber noch nicht straff organisiert waren.
Wieschke ist selbst aus Eisenach, aber wurde erst 1981 geboren. Zur Wende war er also 8 Jahre alt. Den überwiegenden und für die Herausbildung politischer Überzeugungen wichtigeren Teil seiner Jugend hat er also im Nachwende-Deutschland verbracht.
Ha! Wieder! Die taz schreibt über den Schelm-Verlag, der Mein Kampf und Holocaust-Leugnung vertreibt (Die Lieferanten des Hasses). Sie schreiben über den Verlagsleiter als Rechtsextremist und früheren Leipziger.
der langjährige Rechtsextremist und frühere Leipziger Adrian Preißdinger.
Der Verlag war in Leipzig, das wird im Artikel auch erwähnt, aber wieso sollte die Information, dass der Verlagsleiter ein Leipziger war, relevant sein? Die wäre nur in der Ost-West-Diskussion wichtig. Und da ist sie falsch. Adrian Preißinger wurde 1964 in Kronach, einer oberfränkischen Stadt, geboren.
Im Folgenden zeige ich zwei Tabellen. Sie basieren auf einem Forschungsprojekt, das neben vielen anderen Daten den religiösen Hintergrund aller Mitarbeiter*innen in der Staatsführung und Administration im Kaiserreich, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der BRD und der DDR erhoben hat. Dabei wurden immer, soweit zugänglich, die obersten drei Hierarchieebenen erfasst.
Strobel et. al. 2021. Datenbericht zur Politisch-Administrative Elite der DDR unter Willi Stoph I (1964–1973)
BRD
Tabelle 1 zeigt den Anteil der Juden in den Eliten von 1949 bis 1998, Tabelle 2 den der Juden in der DDR von 1949 bis 1989. Wie man sehen kann, ist der Anteil der Juden in der BRD 0. Kein einziger war dort an Regierungen beteiligt. In der ersten Spalte sind die Minister zu sehen, in der zweiten die Verwaltung.
Politiker*innen
Beamt*innen
Konrad Adenauer 1949–1963
0/51
0/283
Ludwig Erhard (1963–1966)
0/28
0/186
Georg Kiesinger (1966–1969)
0/32
0/208
Willy Brandt (1969–1974)
0/52
0/251
Helmut Schmidt (1974–1982)
0/64
0/279
Helmut Kohl (1982 – 1998)
0/133
0/480
Laut taz vom 29.04.2025 ist Karin Prien die erste jüdische Person im Ministerrang in der BRD. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Edit: 30.04.2025 Peer hat mich darauf hingewiesen, dass Gerhard Jahn Jude und Justizminister bei Willi Brand war. OK. Einer.
DDR
In der DDR gab es neun, dann acht, dann einen. Eventuell hat es noch weitere gegeben, aber die Daten, die in Kassel ausgewertet werden konnten, waren im Gegensatz zu denen, die für die BRD vorlagen, nicht vollständig.
In der ersten drei Spalten findet man Politiker*innen, in den zweiten drei Spalten das Verwaltungspersonal. In der ersten Spalte findet man jeweils die absoluten Zahlen. Danach kommt eine Angabe in Prozent bezogen auf die gesamte Gruppe. Die jeweils dritte Spalte gibt den Prozentwert in Bezug auf den Rücklauf. D.h. wenn die Religion nicht bekannt war, wurde die betreffende Person nicht mitgezählt.
Prozent
Gültige
Prozent
Gültige
Otto Grotewohl (1949–1964)
9/334
2,7%
11,1%
1/9
11,1%
100%
Willi Stoph I (1964–1973)
8/379
2,1%
16,3%
1/20
5,0%
33,3%
Horst Sindermann (1973–1976)
1/291
0,3%
3,4%
0/6
Willi Stoph II (1976–1989)
0/395
0/11
Die Kassler Untersuchung listet die jeweiligen Mitglieder der Administration namentlich auf. Man kann die Listen also durchgehen und nach Personen in Wikipedia suchen. Bisher habe ich folgende Juden gefunden:
Bei den Juden, die ich in den Kassler Listen finden konnte, habe ich nachgesehen, warum sie nach 1976 nicht mehr in den Regierungen geführt werden. Wie man den folgenden Zitaten aus Wikipedia entnehmen kann, lag das nicht daran, dass sie irgendwie in Ungnade gefallen wären. Auch ist zu berücksichtigen, dass Verfolgte des Naziregimes bereits mit 60 Jahren in Rente gehen konnten (Goschler, 1993: 107). (Frauen mit 55)
Über Herbert Grünstein steht folgendes in Wikipedia:
Im Januar 1951 wurde er als Nachfolger des abgesetzten Generalinspekteurs Hans Klein Leiter dieser Abteilung, die 1952 in Politische Verwaltung umbenannt wurde. Von September 1955 bis 1957 war er Stellvertreter und vom Februar 1957 bis Oktober 1973. Stellvertreter des Ministers des Innern und gleichzeitig Staatssekretär im MdI. Im Juli 1957 wurde er vom Chefinspekteur zum Generalmajor umattestiert und am 29. Juni 1962 auf Beschluss des Ministerrates der DDR zum Generalleutnant befördert. Von 1974 bis 1984 war er stellvertretender Generalsekretär bzw. Sekretär für internationale Beziehungen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF), von 1976 bis 1989 Vorsitzender des Bezirkskomitees Berlin der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR und gleichzeitig Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin. Er war 20 Jahre lang von 1953 bis 1973 neben Erich Mielke zweiter Vorsitzender der Zentralen Leitung der Sportvereinigung Dynamo. Grünstein war Mitglied des Vorstandes der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Seine jüdische Identität hielt er – auch vor seiner Tochter Eva Grünstein-Neumann – lange verborgen.
Leider weiß man nicht wie lange „lange“ war. Sicher kann man Grünstein dann aber nicht als Beweis für Antisemitismus oder das Gegenteil in der DDR heranziehen.
Über Hertzfeldt steht folgendes in Wikipedia:
Hertzfeldt gehörte zu den wenigen Juden, die in Berlin die NS-Herrschaft in der Illegalität überlebten. Nach Kriegsende 1945 war er im Jugendnoteinsatz als Zimmermann tätig. Hertzfeld war Gründungsmitglied der Antifa-Jugend und der Freien Deutschen Jugend. 1945 trat er der KPD bei und Hertzfeldt war der jüngste Delegierte auf dem Vereinigungsparteitag von KPD und SPD zur SED. Von 1947 bis 1949 war er Journalist beim Berliner Rundfunk und anschließend bis 1962 als Mitarbeiter in der Redaktion der theoretischen Zeitschrift des ZK der SED „Einheit“ und spezialisierte sich auf Außenpolitik. Zwischenzeitlich absolvierte er von 1954 bis 1957 ein Studium an der Parteihochschule beim ZK der KPdSU in Moskau mit Abschluss als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler. 1962 trat er in den diplomatischen Dienst der DDR. Von 1962 bis 1965 war Hertzfeldt Generalkonsul der DDR in Jakarta. Von 1966 bis 1969 war er als einer der Stellvertreter des Außenministers tätig und vertrat die DDR anschließend von März 1969 bis 1973 als Botschafter in Peking. Der Antritt Herzfeldts fiel in die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen der VR China mit der UdSSR am Ussuri. Von 1973 bis 1983 war er Chefredakteur der Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik“, des Organs des DDR-Außenministeriums.
Über Hans Rodenberg kann man lesen:
Als er 1948 in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehrte, konnte Rodenberg seine künstlerische Entwicklung fortsetzen. Er gründete das Theater der Freundschaft in Berlin-Lichtenberg und wurde dessen erster Intendant. Er wurde 1952 auch Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (Ost), Sektion Darstellende Kunst und blieb es bis zu seinem Tod.
1949 nahm er als Sonderkorrespondent des Neuen Deutschland am Prozess gegen Trajtscho Kostow und seine Gruppe in Sofia teil.
Rodenberg war 1952 bis 1956 Hauptdirektor des DEFA-Studios für Spielfilme. Zwischen 1956 und 1960 war Rodenberg Dekan an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg; 1958 erhielt er seine Ernennung zum Professor.
Außerdem betätigte er sich kulturpolitisch als stellvertretender Kulturminister (1960–1963), Mitglied des Staatsrats, der Volkskammer und des Zentralkomitees der SED.
Von 1969 bis 1974 war Rodenberg Vizepräsident der Akademie der Künste, Berlin (Ost).
Quellen
Am Orde, Sabine. 2025. Kabinettsliste der Union: Gefährliche Auswahl. taz 29.04.2025. Berlin. (https://www.taz.de/!6082069)
Goschler, Constantin. 1993. Paternalismus und Verweigerung — Die DDR und die Wiedergutmachung für jüdische Verfolgte des Nationalsozialismus. In Benz, Wolfgang (ed.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Band 2. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Helmut Kohl (1982–1998). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193307)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021a. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Horst Sindermann (1973–1976). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3021&token=2c6fae1adfcbb1c4762fd67174cd664979d7f4f8)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021b. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Otto Grotewohl (1949–1964). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3023&token=8eb0f51761c4749523f5803ed4e6c6c62bd5de04)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021c. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Willi Stoph I (1964–1973). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3022&token=f349d9887a6c7d9185e7fb9c0a54456aff6f27f6)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021d. Datenbericht zur Politisch-Administrativen Elite der DDR unter Willi Stoph II (1976–1989). Zwischenbericht der Datenerhebung zur DDR im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“. Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://www.uni-kassel.de/fb07/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=3377&token=69d43af16bfd665bb2c0b29358fc169623c83639)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021e. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Helmut Schmidt (1974–1982). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193306)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021f. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Konrad Adenauer (1949–1963). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183292)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021g. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Kurt Georg Kiesinger (1966–1969). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193304)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021h. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Ludwig Erhard (1963–1966). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102183293)
Strobel, Bastian & Scholz-Paulus, Simon & Vedder, Stefanie & Veit, Sylvia. 2021i. Die Politisch-Administrative Elite der BRD unter Willy Brandt (1969–1974). Universität Kassel: Fachgebiet Public Management. (https://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202102193305)
Auch waren Antisemitismus und Nationalismus wichtige Bestandteile der sowjetischen und realsozialistischen Ideologie.
Rabe, Anne. 2023. Die Möglichkeit von Glück. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 271
Die Besprechung dieses einen Satzes ist viel zu lang geraten, so dass ich beschlossen habe, sie in einen extra Blog-Post auszulagern. Das ist dieser hier.
Ad hominem: Wer spricht?
Ich habe mich gefragt, wo hat Anne Rabe das nur herhat. Quellen hat sie keine angegeben. Da steht nur dieser eine Satz. Na, vielleicht von Ines Geipel. Dass sie mit Ines Geipel befreundet war/ist habe ich aus einem Artikel in der NZZ über ein angebliches Plagiat von Rabe erfahren (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Dass Anetta Kahane und Ines Geipel gelogen haben (oder extrem unwissend sind), wenn sie behaupten, der Holocaust sei im Osten nicht vorgekommen, habe ich schon in Der Ossi und der Holocaust besprochen. Zum (fast) nicht vorhandenen Antisemitismus in der DDR hat die Jüdin Daniela Dahn viel geschrieben. Manches ist auch im Holocaust-Post erwähnt. Andere Sachen bespreche ich im Post über die Ausstellung über jüdisches Leben in der DDR, die vom jüdischen Museum organisiert wurde.
Ich habe diverse Interviews mit Anne Rabe gelesen und in einem Interview von Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung steht:
Auch der Historiker Patrice G. Poutrus, der eher Oschmanns Generation angehört, hat beobachtet, dass Rechte und Rechtsextreme im Osten auf ein festes nationalistisches Weltbild trafen.
Ich bin ja immer bereit, Neues zu lernen und dachte mir: „Gut, mal gucken, was der Historiker Poutrus herausgefunden hat.“ Als erstes: Kurzer Chek: Er ist aus dem Osten. Also gut, mal gucken. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich einen Aufsatz von ihm gefunden, den er gemeinsam mit Jan C. Behrends und Dennis Kuck verfasst hat: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern.
Anschließend arbeitete er als hauptamtlicher FDJ-Funktionär erst im VEB Werk für Fernsehelektronik und dann in der FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1988 legte er sein Abitur an der Abendschule der Volkshochschule Berlin-Treptow ab. 1989 wurde er zum Fernstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin zugelassen.
Nun ja, nun ja. Ein FDJ-Sekretär, der sich für ein Geschichtsstudium beworben hat. In der DDR. Fächer wie Geschichte und Philosophie studierten in der DDR nur die rötesten Socken. Für mich fällt Poutrus damit in eine Gruppe mit Geipel (Vater IM für terroristische Anschläge auf BRD-Gebiet), Kahane (Vater ND-Chefredakteur, sie selbst IM, die aktiv jüdische Freunde verraten hat, siehe Wikipediaeintrag) und Rabe (Funktionärskind): ehemalige rote Socken bzw. Funktionärskinder, die auf die andere Seite vom Pferd gefallen sind. Der Punkt ist: Als belasteter Mensch darf man auf keinen Fall irgendetwas Gutes an dem finden, was man hinter sich gelassen hat, denn andere könnten ja dann denken, man sei immer noch „so einer“.
Rote Vergangenheit allein bedeutet nichts. Menschen können sich ändern. Ad hominem-Argumente sind in der normalen Wissenschaft unzulässig. Aber irgendwie scheint mir hier doch ein Muster vorzuliegen und es geht bei gesellschaftlich relevanten Aussagen eben doch darum, wer spricht. Die echten Argumente zu Poutrus kommen in den nun folgenden Abschnitten. Die gegen Kahane und Geipel habe ich bereits in Holocaust-Post vorgebracht. Die gegen Rabe in den beiden zu Beginn zitierten Blog-Posts und auch vermischt mit dem, was jetzt kommt.
Jugendliche Rechtsextremisten in Jugendtreffs
Ich gehe den Text von Poutrus, Behrends & Kuck einfach mal der Reihe nach durch. Die Autoren schreiben:
Trotz Vereinheitlichungstendenzen und internationaler Vernetzung in der rechten und Skinhead-Szene sind deutliche Unterschiede zwischen der Situation in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. Kennzeichnend ist nicht nur die ’starke Dominanz jugendlicher Rechtsextremisten’ in den Jugendtreffs verschiedener ostdeutscher Brennpunkte, sondern die inzwischen erreichte voraussetzungslose Gewaltbereitschaft.
Hierzu möchte ich der geneigten Leser*in folgendes Video ans Herz legen:
Der Beitrag zeigt einen Jugendclub in Cottbus, in dem sich Rechtsradikale treffen. Sie werden dort vom CDU-Innenminister Jörg Schönbohm besucht, der die Jugendlichen prima findet (12:30). Die Familie Schönbohm floh 1945 in den Westen. Schönbohm war Generalleutnant in der Bundeswehr und Landesvorsitzender der CDU Brandenburg. Auch sieht man im Video, dass die Nazi-Partei Deutsche Alternative, die in Brandenburg aktiv war, von Menschen aus dem Westen aufgebaut wurde (11:25). Rabe schreibt dazu auch an einigen Stellen etwas und stellt den Einfluss von West-Nazis und Westpolitikern in Frage. Ihre Aussagen im Buch zum Beispiel bzgl. Lichtenhagen sind einfach falsch. Zu dieser Diskussion siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück.
Nationalstolz
Die Autoren argumentieren, dass die DDR einen Nationalstolz zu etablieren versucht habe, der dann später in den jetzt zu beobachten Nationalismus umgeschlagen sei. Im Folgenden möchte ich einige Bereiche untersuchen, auf die man hätte stolz sein können oder sollen.
Sport
Die Staatsführung wollte, dass wir stolz auf unser Land sind. Verständlich. Sie wollte, dass wir gern dort leben und nicht bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aber hat das irgendwie geklappt? Ich bin ja fast noch nachträglich stolz auf die DDR geworden, als ich gestern gesehen habe, wie gigantisch die Last war, die die Generation meiner Eltern und Großeltern gestemmt hat: Reparationsleistungen und Wiederaufbau (siehe Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Aber zu DDR-Zeiten war ich nicht stolz auf die DDR und kannte außer anderthalb Stasi-Kindern wahrscheinlich auch niemanden, der stolz war. Die DDR hat es versucht. Mit Sport. Katarina Witt war super. Ich habe sie als Kind beim Schaulaufen gesehen. Im Sport- und Erholungszentrum im Friedrichshain. Beim Kinderschaulaufen. Sie war ein Schlumpf. Wahrscheinlich so 14 Jahre alt. Später hing in jedem Klassenraum ein Bild von ihr. Im FDJ-Hemd. Sie war Mitglied der Volkskammer. Sie kannte Bryan Adams und hatte dafür gesorgt, dass er zu einem Konzert nach Berlin kam.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn anzukündigen. Vor 65.000 Menschen. Sie haben sie ausgebuht.1 Die Gold-Käthe hat es nicht verstanden. Wo kam nur diese Abneigung her? Sie hatte doch alles gewonnen, was man gewinnen konnte? Für die FDJ, für Erich Honecker, für ihr Land. Wir mochten sie nicht.
Nach der Wende hat sie das Land verlassen. Wie man dem folgenden Video entnehmen kann, hat sie heute noch nicht verstanden, warum wir sie nicht mochten.
https://www.youtube.com/watch?v=wThl0N5fybk
Sandow hat sogar ein Lied über die Konzerte damals (mit Bruce Springsteen) und über unseren Stolz auf Katharina Witt geschrieben:
Wir bauen auf und tapeziern nicht mit Wir sind sehr stolz auf Katharina Witt Katharina was born Born in the GDR.
Sandow: Born in the GDR. 1989
Betriebe
Meine Mutter hat Betriebsbesichtigungen organisiert. (Für die, die es nicht erlebt haben: Ein Großteil des kulturellen Lebens fand in der DDR auch über die Betriebe statt. Musik, Ausflüge usw. Freigeister fanden das doof. Diese klebrige Enge. Aber das war alles weg, als nach der Wende die Arbeitslosigkeit kam. Persönliche Bindungen weg, Arbeit weg, Kultur weg. Es blieb nur ein Trümmerhaufen.) Jedenfalls habe ich eine Lichtleiterfabrik, eine Fabrik von Sternradio und ein Kugellagerwerk besichtigt. Ich dachte, dass eine Lichtleiterfabrik etwas Hochmodernes sein müsste. Es war eine kleine Klitsche mit Maschinen aus den 70er Jahren. Die Kugellagerfabrik funktionierte. Ich fand es lustig, dass die fertigen Kugellagerrollen auf Schienen durch die Halle rollten. Die Fertigungsanlage für Sternradio wurde aus Schweden importiert. Cooles Zeug. Nestbauweise. Wir konnten sehen, wie die Schaltkreise auf die Platinen kamen usw. Die Taktstraße stand in einem alten Fabrikgebäude. Die Sternrecorder – muss wohl der SKR 700 gewesen sein – wurden ganz oben produziert. Wenn sie fertig waren schwebten sie am Förderband ins Treppenhaus, wo sie dann ins Erdgeschoss hinabgelassen werden sollten. Das Abbremsen der Recorder im Treppenhaus funktionierte nicht, so dass eine große Anzahl der Recorder sechs Stockwerke in die Tiefe stürzte. 1540 Mark einfach futsch. Pfusch. Sollte ich darauf stolz sein?
Ich bin in Buch aufgewachsen. In den Neubauten. Es gab die alten Neubauten, die Neubauten und die neuen Neubauten. Ich konnte dabei zusehen, wie Teile der Neubauten und der neuen Neubauten entstanden. Die Baustellen standen oft Monate lang still, weil Material fehlte. Die Bauarbeiter saßen in den Bauwagen davor. Sollte ich darauf stolz sein? Es gab Wohnungsnot. Später im Westen habe ich mich darüber gewundert, wie schnell man Häuser bauen konnte.
1987 war ich für drei Wochen im Braunkohlewerk Espenhain. Die Schwelerei war zugefroren und das Werk hatte die Armee um Hilfe gebeten. Die Kompanie vor uns hatte die Schwelerei vom Eis befreit, so dass die Förderbänder wieder liefen. Wir waren nur noch zur Sicherheit dort im Einsatz. Ich erinnere mich genau daran, wie wir hingefahren sind. Wir saßen auf einem Laster, ich war eingeschlafen. Irgendwann bin ich aufgewacht, hab einen kurzen Blick nach draußen geworfen und wusste: Wir sind da. Der Schnee war schwarz. Ich habe in der Nachtschicht gearbeitet und meine Aufgabe war es, ab und zu an ein Rohr einer Filteranlage zu klopfen, damit die Asche in einen mit Wasser gespülten Kanal fiel, denn die Klappe dafür verklemmte sich ab und zu. Es gab Förderbänder über die Kohlebriketts aus den Kohlepressen in Bahnwaggons transportiert wurde. Die Briketts kamen aus der Presse über Doppel-T-Träger aus Stahl. Die Träger waren so abgenutzt, dass in der Mitte das Metall weg war. Deshalb verklemmte sich ab und zu ein Brikett, die umliegenden Brieketts ploppten raus und fielen neben die Träger. Unsere Aufgabe war es, die Kohle auf die Bänder zu schippen. Ein Angestellter erzählte uns, dass das normalerweise „die Russen“ machen. Die T‑Träger befanden sich in der Höhe von 2 bis 3 Metern. Wenn dann so viele Briketts runtergefallen waren, dass sie in die Höhe der T‑Träger kamen, wurden die „Freunde“ gerufen und schippten das alles in einem Rutsch weg. Aber da wir nun schon mal da waren, konnten wir das auch erledigen.
Wenn es regnete, sah man die Pfützen nicht. Der Staub lagerte sich auf ihnen ab.
Das Werk Espenhain wurde 1937 von den Nazis gebaut. Schon kriegssicher in redundanter Doppeltausführung: zwei gleiche Kraftwerke nebeneinander.
Nach dem Kohleeinsatz bekamen wir drei Tage verlängerten Kurzurlaub (VKU). Ich habe jeden Tag gebadet. Die Kohle war noch lange in den Poren. (Nicht, dass wir in Espenhain nicht geduscht hätten. Das hat nur nicht viel geholfen.)
Sollte ich auf Espenhain stolz sein? Das war ein komplett runtergerocktes Kraftwerk!
Das steht hierzu in Wikipedia:
In den 1960er Jahren waren die Anlagen im Zusammenhang mit der Wirtschaftsorientierung auf die Erdölchemie massiv auf Verschleiß gefahren worden. Als Anfang der 1970er Jahre die Kohlechemie wieder an Bedeutung gewann, wurde die Produktion in den verschlissenen Anlagen auf maximale Leistung gesteigert. Dadurch und durch nicht vorhandene Investitionen im Bereich des Umweltschutzes stiegen die Schadstoffemissionen in Luft und Wasser sehr stark an. Über dem Ort und seiner Umgebung lag immer eine Wolke von Phenolen, Schwefel, Ruß und Asche. Der hohe Schadstoffausstoß machte es erforderlich, jeden Morgen Straßen und Gehwege zu kehren, da sich eine dicke Ascheschicht niedergelassen hatte. Einige Einwohner berichten, dass gelegentlich die Sonne hinter Aschewolken verschwand und dass Autos tagsüber mit Licht fahren mussten. Die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Einwohner der Stadt waren verheerend. Die Lebenserwartung lag infolgedessen einige Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. Vor allem Kinder litten stark unter den auftretenden Haut- und Atemwegserkrankungen, wie z. B. Ekzemen und chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Auch heute noch sind viele Einwohner von Spätfolgen betroffen
Im Konsum des Werkes gab es Schnaps für 60 Pfennig (Wikipedia sagt 1,12 M) die Flasche (Brauseflasche). Der wurde Kumpeltod genannt. Bergleute und Leute in den Kraftwerken wurden exklusiv damit versorgt. Ich hab das nicht getrunken. Vielleicht bin ich darauf stolz …
In den Nachrichten wurde der 1‑Megabit-Chip gefeiert. Sollte ich darauf stolz sein? Freunde hatten West-Computer, ich arbeitete an Ost-Computern. Ich wusste, wo wir standen.
Alle wussten es. Es gab Witze: „Ein Japaner kommt in die DDR und reist durchs Land. Kurz vor seiner Abreise wird er gefragt, was er am besten fand. Die Antwort: ‚Die ganzen Museen: Pergamon, Robotron, Pentacon.’“ (Nebenbemerkung: Das bedeutet nicht, dass alles Schrott war. Es gab neu errichtete Werke, gut funktionierende Werke, es gab Bodenschatzvorkommen, die ergiebiger waren als die im Westen (Kali). Das alles konnte man in einem Film über die Treuhand sehen, der aber leider privatisiert wurde … (auf youtube auf privat gestellt wurde.))
Ich war nicht stolz auf die DDR. Ich war auch nicht stolz Deutscher zu sein. Wir hatten gelernt, dass Nationalismus das Wurzel allen Übels war. Ich bin nach der Wende noch jahrelang zusammengezuckt, wenn jemand „Deutschland“ gesagt hat, und würde dieses Wort auch heute noch gerne nicht verwenden.
Die Autoren schreiben:
Hilflos gegenüber der Allgegenwart des Westfernsehens und der wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik, versuchte die Partei eher durch den Vergleich mit den sozialistischen Bruderländern, den Verweis auf die eigene Spitzenstellung (hinter der Sowjetunion), Punkte zu sammeln. Insbesondere in Krisensituationen war die Parteiführung auch bereit, ungeniert antipolnische Stereotype (‘polnische Wirtschaft’) zu bedienen
Es stimmt, dass wir wussten, dass wir die Besten der Abgehängten waren. Noch vor der Sowjetunion. Ich war 1984 in Polen und 1988 in Rumänien und die Versorgung dort war unglaublich schlecht. Aber ich dachte: Puh, da haben wir aber Glück. Und muss ja, weil wir das Schaufenster waren (siehe Bananen im Post Weitere Kommentare zu Anne Rabes Buch: Eine Möglichkeit aber kein Glück). Stolz war ich darauf nicht. Die Sache mit den Polen stimmt. Das ging gegen Solidarność.
Worauf war ich stolz, worauf konnte ich stolz sein? Auf meine eigenen Erfolge im Sport? Im Schach? In Mathematikolympiaden? Ja.
Auf unsere Täterätä – wie Manfred Krug sie nannte – stolz zu sein, wäre mir nie im Traum eingefallen. Das war bei FDJ-Funktionären und bei Sachsen vielleicht anders.2
Nationalismus und Rassismus
Nationalismus
Zum Nationalismus schreiben die Autoren:
In der ‘patriotischen Erziehung’ der DDR wurden Begriffe wie ‘Heimatliebe’ oder ‘Stolz auf die Errungenschaften’ der DDR mit sozialistischer Ideologie aufgeladen. ‘Sozialistischer Patriotismus’, das hieß unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung und Solidarität mit den ‘unterdrückten’ Völkern der Welt. Uns erscheint aber zweifelhaft, ob die Bevölkerungsmehrheit all diese Implikationen nachvollzog oder ob nicht eher nach der prägenden Kraft dahinterstehender tradierter Denkstrukturen, nämlich der kritiklosen Überhöhung des Eigenen und der exklusiven Identifikation mit dem eigenen Kollektiv zu fragen ist. Beruhte diese ‘imagined community’ (Benedict Anderson) also auf genau jenen Mechanismen, die für das Gefühl und das Erlebnis, einer ethnisch definierten ‘Nation’ anzugehören, typisch sind? Einige fachspezifische Forschungsergebnisse weisen in diese Richtung: Die bildungsgeschichtliche Studie von Helga Marburger und Christiane Griese attestiert der DDR-Pädagogik einen starken Homogenisierungsdruck nach innen. ‘Das Eigene war kollektives Eigenes und als solches streng genormt.’
Hm. Ja. Vielleicht. Wie die Autoren selbst schreiben, war es mit „Liebe zur SED und Verehrung für die Parteiführung“ nicht weit her. Den Erich haben wir nicht geliebt. Wir haben ja nicht mal die Katharina geliebt und die sah wirklich gut aus. Was die Staatsführung wollte und was real war, klaffte nicht nur bei der Wirtschaft auseinander.
Aber ist jetzt das DDR-System schuld daran, dass es wollte, dass die Bevölkerung dieses Land liebte und da blieb, statt bei der nächstbesten Gelegenheit in den Westen zu verschwinden? Die exklusive Identifikation mit dem eigenen Kollektiv gehörte sicher nicht zu den „dahinterstehenden tradierten Denkstrukturen“, denn uns wurde immer der Wert der Völkerfreundschaft beigebracht. Internationale Solidarität. Im Kampf für eine bessere Welt, ohne Ausbeutung usw. Das schreiben die Autoren ja auch selbst. Der oben zitierte Absatz scheint mir inkonsistent zu sein.
Weiter:
Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Verhältnis der Stasi zu den auch in der DDR existenten Skinheadgruppen. In den Stasi-Akten zum Skinheadüberfall auf die Zionskirche von 1987 wird deutlich, wie stark die Denkschemata der Ermittler durcheinander gerieten. Waren doch die Opfer – Ziel des Überfalls war ein Punkkonzert – durch ihren Non-Konformismus bis dahin selbst Objekt von Beobachtung und Verfolgung der Sicherheitsorgane, weil ihre Einstellung als systemfeindlich galt. Was die rechten Schläger betrifft, so reichen die Akten über rechtsextreme Vorfälle bis 1978 zurück. Gleichwohl passte die ‘faschistische’ Orientierung dieser Tätergruppe nicht in das Raster der klassenkämpferisch geschulten Geheimdienstler, hatten die Skins doch wesentliche ’sozialistische Werte’ wie Arbeitsliebe, Ordnung, Sauberkeit und Bereitschaft zum Militärdienst für sich angenommen. Dieses Beispiel verdeutlicht die ’sozial-hygienischen’ Gemeinsamkeiten staatssozialistischer und rechtsextremer Leitbilder. Diese Übereinstimmung war es, die eine couragierte und offene Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus unmöglich machte, wären damit doch die genannten Grundwerte der DDR und letztlich der beschriebene Herrschaftsmodus der SED in Mitleidenschaft gezogen worden.
Sorry. Das geht nicht auf als Argument. Gruppe 1 hat Werte A, B, C, D. Gruppe 2 hat Werte A, B und X. Warum soll Gruppe 1 nicht Gruppe 2 wegen X bekämpfen können? Wenn es Nazi-Musik gibt, liegen Straftaten vor, gegen die man vorgehen kann. Ich hatte Kassetten in der Hand, auf denen Songs wie „Töte Deinen Nachbarn!“ und „Mein goldener Schlagring“ waren.
Übrigens kann man den Stasi-Unterlagen zum Vorfall in der Zionskirche auch entnehmen, dass da Skinheads aus West-Berlin dabei waren. Just saying.
Reisen
Zum Thema „Fremde und Ausländer in der DDR“ schreiben die Autoren:
Spätestens seit dem Mauerbau waren Auslandsreisen und internationale Mobilität aus dem Alltag der DDR verbannt. Nur wenige konnten sich private Urlaubsreisen etwa nach Bulgarien oder Ungarn leisten. Besuche im Westen waren Ausnahmen im Falle wichtiger Familienangelegenheiten. Für die Mehrheit der DDR-Bürger war Reisen ein staatlich gewährtes Privileg. Diesen eingeschränkten Erfahrungshorizont gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Aufenthalt von Fremden und Ausländern in der DDR betrachtet. Die staatssozialistische Diktatur mit ihrem allumfassenden Regelungsanspruch ‘offizialisierte’ jede Form und Gelegenheit des Kontakts zu Fremden, so wie sie das mit allen sozialen Beziehungen zu verwirklichen suchte. ‘Gesellschaft’ im Sinne eines relativ autonomen Bereichs sozialer Beziehungen und Institutionen, wie er für bürgerlich-liberale Staaten typisch ist, sollte es in der DDR nicht geben, und das galt auch und gerade auf diesem Gebiet. Kontakte und Umgang außerhalb der staatlich festgelegten Regeln waren nicht vorgesehen, entweder explizit verboten, zumindest aber unerwünscht. Angehörige unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten sollten sich der SED-Ideologie zufolge gewissermaßen daher immer als ‘Repräsentanten’ ihrer jeweiligen Staatsvölker, quasi in diplomatischer Funktion, begegnen, nicht jedoch auf einer ‘Von-Mensch-zu-Mensch-Basis’. Das einander Akzeptieren als ‘Menschen wie du und ich’, als individuelle Gäste und Gastgeber, Durchreisende und Einheimische, als Zufallsbekanntschaften etc. wurde dadurch von vornherein erschwert bzw. erforderte bewusstes, eigensinniges Gegenhalten — wofür es durchaus Beispiele gab! Die Botschaft der offiziellen Regelungswut war aber: ‘Staatszugehörigkeit’ (und die machte sich praktisch an der Nationszugehörigkeit fest) ist eminent ‘wichtig’, der Internationalismus stellte die Vorrangstellung der Nation nie infrage .
Das hat mich einigermaßen verwundert. Denn ich war in Moskau, Carlovy Vary (Karlsbad) Prag, Budapest, Brașov, Bukarest, Sofia, Sosopol, Varna, Warschau und Puławy. An vielen Orten war ich mehrfach. Das Einzige, was man bezahlen musste, war eine Zugfahrkarte. Die war nicht teuer. Lebensmittel kosteten genau so viel wie zu hause. Geschlafen haben wir auf dem Zeltplatz. Ich war im Bucegi-Gebirge wandern. Wir hatten Seife und Kaffee mit. Beste Zahlungsmittel in Rumänien damals. Die Tour Berlin–Sosopol war der Standard damals. Ich weiß noch, dass die Sonnenschirme in Sosopol 3 Mark gekostet haben. Das haben wir uns nicht geleistet. Einmal hatte ich Fieber, da mussten wir. Man hat unterwegs dieselben Leute in Prag und Budapest getroffen. Die Reisen fanden zwischen 1984 und 1989 statt. Ich war jung und hatte kein Geld. Es ging dennoch.
In Budapest schliefen die Ossis immer einfach unter freiem Himmel auf der Magareteninsel. Das ging den Ungarn irgendwann so auf die Nerven, dass sie eine Speziallösung für uns Ostdeutsche entwickelten: Es gab am Ende der U‑Bahn-Linie einen mit Stacheldraht umzäunten Platz, auf dem man umsonst schlafen konnte (steht auch im Wikipediaeintrag zur Magareteninsel). Man musste seinen Personalausweis am Eingang abgeben und am Morgen kam um 6:00 die rendőrség, stellte sich neben die Schlafenden und drehte einmal voll die Sirene auf. Alle waren wach. Bis um 7:00 oder 8:00 hatte man das Gelände wieder zu verlassen. Manche haben gezeltet, manche unter freiem Himmel geschlafen. Findige Ungarn haben ein Geschäftsmodell entwickelt: Man konnte seinen Rucksack bei ihnen im Garten abstellen, denn die Schließfächer an den Bahnhöfen waren alle belegt. Ich habe einmal da draußen gezeltet. Wo dieser Zeltplatz war, konnte man herausfinden, indem man andere Ossis fragte. Wir haben uns an den Schuhen (Römerlatschen oder Tramper) erkannt. Bei meinen anderen Budapest-Besuchen habe ich immer in einem privaten Garten gezeltet. Mehrere Ungarn hatten ihre Gärten zu Zeltplätzen umfunktioniert.
Von der Schule aus war ich in Moskau, Carlovy Vary und Polen (Puławy, Warschau, Auschwitz). Das entspricht dem, was die Autoren geschrieben haben: Wir waren in diplomatischer Funktion dort. Ich bin auch Ehrenpionier der Sowjetunion geworden, was mir später in meiner Zeit als Kanzlerkandidat der Partei Die PARTEI sehr helfen sollte (siehe Korrektur Lebenslauf).
Stefan Müller, Professor für deutsche Syntax an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktkandidat der Partei Die PARTEI für den Wahlkreis 242 Erlangen für die Bundestagswahl 2021, 09.08.2021, Bild: Arne Reinhardt CC-BY.
Ich brauchte keine rote Krawatte mehr zu kaufen, sondern habe einfach das rote Halstuch genommen, das noch im Keller lag. (Oh, gehöre ich jetzt zu einer Gruppe? Bin ich mitschuldig geworden? Im Sinne der Blutschuld, die Anne Rabe vertritt?) Der Rest der Reisen waren Individualreisen.
Nun kann man einwenden, dass ich und die anderen Menschen, die ich kannte, nicht repräsentativ für die DDR war. Schließlich war ich Abiturient und die Anzahl der Abiturient*innen war insgesamt eher gering. Zwei Schüler*innen aus einer POS-Klasse mit 30–31 Schüler*innen. Peer, ein Schulfreund, der auch mit in Moskau war, hat diesen Einwand auch sofort gebracht. Da er aber auch die beste Such-Maschine der Welt ist, hat er ihn dann auch gleich entkräftet. Und zwar so richtig.
Eine Meldung aus dem Jahre 1989 kündigt den neuen internationalen Jugendherbergsausweis an.
SED-Zentralorgan Neues Deutschland vom 13.01.1989
Da dieser Ausweis damals neu war, gab es das vorher noch nicht. Aber immerhin zeigt das schon mal, dass die Aussage der Autoren nicht richtig sein kann. Es geht explizit um Individualreisen, günstige Individualreisen ins Ausland.
Aber auch schon 1976 gab es Individualreisen nach Ungarn. Mit dem Bus.
Im Artikel steht, dass Privatquartiere am Balaton vermittelt werden. Das passt nicht zu den Angaben der Autoren. Staatlich organisierte Individualreisen. Unterstützender geht es nicht.
Dass man nicht alles glauben sollte, was in Zeitungen steht oder gar in DDR-Zeitungen stand, gilt hier natürlich auch. Aber es wäre keine propagandistische Glanzleistung, eine Nachfrage bzw. ein Bedürfnis nach Auslandsreisen zu wecken, das man eigentlich verhindern wollte.
Den Punkt „Ossis haben noch nie andere Menschen gesehen.“ können wir also getrost abhaken.
Jugend-Feldbettspiele
Die Autoren schreiben:
Tatsächlicher Kontakt der Bürger mit Ausländern stellte für die SED-Diktatur dagegen ein Sicherheitsrisiko dar. So unterlagen auch die wenigen internationalen Veranstaltungen wie die ‘Weltfestspiele der Jugend und Studenten’ im Sommer 1973 oder die ‘Festivals des politischen Liedes’ politischer Kontrolle.
Hey, warte mal. Auch das habe ich anders gehört. Es gab nach dem Festival viele internationale Kinder. Es war ein Fest der Völkerfreundschaft. Sollten die Organe des Inneren so versagt haben und komplett die Kontrolle über die äußeren Organe verloren haben? Das Festival der Jugend war unser summer of love.
Das schreibt der Tagesspiegel dazu:
Das eigentliche Festival findet nicht in den Bars oder Klubs statt, sondern unter freiem Himmel. Zehntausende von Jugendlichen kampieren in den Grünanlagen der Ost-Berliner Innenstadt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Festival zeitigt Festival-Ehen und Festival-Kinder, und im Volksmund heißen die Jugend-Weltfestspiele bald Jugend-Feldbettspiele.
Es waren 8 Millionen Menschen in der Stadt. Es war die Hölle los. Der Tagesspiegel beschreibt auch die Maßnahmen der Stasi, aber die Verbrüderung bzw. Verschwesterung oder Vermenschung der 8 Millionen konnte und sollte nicht verhindert werden. Alle sprachen offen. Sogar mit den Typen von der CDU.
Vertragsarbeiter
Was stimmt, ist, dass man die Vertragsarbeiter eigentlich nicht gesehen hat und zu den Sowjetsoldaten hatte man im Prinzip auch keinen Kontakt. Ich hatte mal „diplomatischen“ Kontakt, weil wir bei unseren Freunden in ihrer Kaserne waren und Schach gespielt haben. Ich habe gewonnen. Geredet haben wir nicht viel. Wohl eher, weil mein Russisch zu schlecht war. Als Schüler habe ich bei Bernau Erdbeeren gepflückt. Da waren auch ein paar Sowjetsoldaten. Ich habe gegessen und gepflückt, sie haben nur gepflückt. Sie waren unglaublich schnell. Geredet haben wir nicht. Über „Меня зовут Стефан.“ wäre ich auch nicht hinausgekommen und vielleicht hätten sie auch Ärger bekommen. Bei meiner Frau an der Burg Giebichenstein in Halle haben Kubaner, Vietnamesen, Tschechen und Bulgaren studiert. Es gab Verträge mit den jeweiligen Ländern. An der Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin gab es Student*innen aus Bulgarien, der Mongolei, Nordkorea, China, der UdSSR, Kuba. Für diesen Austausch gab es Verträge. Das lief unter Entwicklungshilfe. Dass die Student*innen dann nicht hier geblieben sind, lag an ihren Entsenderländern. Bulgarien wollte eine hohe Summe für die Ausbildung ihrer Staatsbürger*innen als Ablöse, wenn diese nicht zurückkamen. Ehen und andere Gründe waren dabei egal.
Dass es Konflikte und rassistische Vorfälle mit den Vertragsarbeiter*innen in den Betrieben gab, kann ich mir vorstellen. Auch dass diese vertuscht wurden, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Aber dass diese eben nicht sein durften, war die offizielle Staatslinie. Das war der Anspruch. Der Rassismus war nicht etwas, was den DDR-Bürger*innen beigebracht wurde. Als Beleg möge die folgenden Seiten aus Bummi für Eltern 1/198, aus der Wochenzeitung für Thälmannpioniere Trommel und aus dem Neuen Leben, einer von der FDJ herausgegebenen monatlichen Zeitschrift für Teenager, gelten. In der DDR gab es für die Zielgruppen meist nur jeweils eine Zeitung/Zeitschrift, weil die Zeitschriften ohnehin staatlich kontrolliert waren. Diese hatten dann eine entsprechen hohe Auflage. Bummi startete mit einer Auflage von 736.300, die der Trommel betrug 1,2 Mio Exemplare. Das Neue Leben hatte eine Auflage von 540.000 bei einer viel höheren Nachfrage. Die Zeitschrift wurde also meist von mehreren Leser*innen gelesen.
Bummi für Eltern 1/1981. Bericht über Lenin-Denkmal und befreundete Nationen, Länder, in denen Urlaub gemacht wurde, und ein Bild von einem befreundeten Schwarzen Mann mit dem Kind der Autorin auf dem Arm.
Das Stück ist eindeutig ein Propagandatext. Es geht um den guten Menschen Lenin. Dann geht es um Urlaub im Ausland (erneut ein Widerspruch zu den Behauptungen der Autoren) und um einen Freund aus Afrika. Auch wenn diese Texte vielleicht nicht viele gelesen habe, schon gar nicht bis zu der Stelle nach Lenin, so ist die Aussage des Bildes doch klar. Die Menschen aus Afrika sind lieb. Sie tragen unsere Kinder. Papi war ein Jahr dort und hat ihnen geholfen und jetzt studiert Ibrahima hier. Geht so Rassismus? Ich bin nicht zum Rassismus erzogen worden, sondern zu Völkerfreundschaft und Verständigung. Und zwar vom Kindergarten bis zum Untergang der DDR.
Der folgende Ausschnitt ist aus der Trommel, der Zeitung für Thälmannpioniere, d.h. für Jugendliche in der vierten bis zur siebten Klasse.
Ausschnitt aus der Zeitschrift für Thälmmannpioniere Trommel 30/1979 zum internationalen Sommerlager der Pionierrepublik mit Kindern aus Guinea, Turkmenien, Vietnam, Peru, Bulgarien.
Auch hier Völkerverständigung, Bilder von Kindern aus Guinea, Turkmenien, Vietnam, Peru und Bulgarien, die in die DDR zum Sommerferienlager in die Pionierrepublik eingeladen wurden. Sie wanderten und spielten dort gemeinsam, trieben Sport und es gab kulturellen Austausch.
Im Jugendmagazin Neues Leben 05/1985 gab es einen Bericht über eine Schule für 900 Kinder aus Mosambik in Staßfurt.
Zwei Doppelseiten über Kinder aus Mosambik, die in der DDR zur Schule gingen und dann auch eine Berufsausbildung gemacht haben.
Die Schule gab es ab 1982 und ab 1985 gab es dort zusätzlich zu den 900 Schüler*innen aus Mosambik auch noch 400 aus Namibia (mdr, 2021). Zur Schule und der vereinbarten Ausbildung in der DDR siehe auch deutsche welle (2021).
Wikipedia schreibt über das Neue Leben:
Inhaltlich versuchte das Blatt, einerseits die politische Bildung der Jugend im Sinne des DDR-Systems zu fördern. Andererseits sprach es Themen an, die die Jugendlichen direkt interessieren, dazu gehörten Fragen des täglichen Lebens, Mode, Film, Musik (auch mit Interpreten aus dem westlichen Ausland), Rätsel und Ratgeberseiten. Bekannt war die Kolumne Professor Borrmann antwortet zu Fragen der Sexualität. Regelmäßig gab es Umfragen nach den beliebtesten Filmen oder Musikinterpreten. Darüber hinaus enthielt die Zeitschrift Kurzgeschichten, naturwissenschaftliche und technische Beiträge. Diese Mischung führte zu einer hohen Popularität des Blattes.
Solche Berichte über diese Schule und die internationale Solidarität mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen gehörte natürlich zur „politischen Bildung der Jugend im Sinne des DDR-Systems“, aber die Botschaft war eben antikolonialistisch und antirassistisch.
Mit der Zuspitzung der Versorgungskrise der DDR Ende der achtziger Jahre hielten die Schlagworte ‘Schmuggel’ und ‘Warenabkauf’ durch Ausländer Einzug in die gesteuerten DDR-Medien, versuchte die SED doch auf diesem Wege von ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik abzulenken. Die im Band Ausland DDR veröffentlichte Leserbriefsammlung der Berliner Zeitung aus der Zeit des Mauerfalls zeigt, welche Blüten die Fremdenfeindlichkeit bereits weit vor der Einheit getrieben hatte. Sie bietet ein Panorama aus besonders antipolnischen Vorurteilen (‘arbeitsscheu’, ‘faul’), Ausverkaufs- und Überfremdungsängsten (‘wollen wir etwa eine Mischrasse?’), aber auch wenigen mahnenden Stimmen.
Das kann sein. Und wenn diese Botschaften wirklich über die DDR-Medien verbreitet worden sind, dann ist auch wirklich die DDR-Führung dafür verantwortlich zu machen. Ansonsten ist die Tatsache, dass eine bestimmte Frage in der Leserbriefsammlung vorkam, noch nicht viel wert, denn es geht ja darum, den höheren Grad an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR zu erklären. Und diese Stimmen hätte man wohl im Westen mit seiner ungebrochenen Nazi-Tradition3 auch finden können. Ich erinnere nur an Horst Seehofer, der den Verfassungsschutzbericht über die Einstufung der AfD als rechtsextreme Partei hat ändern lassen, weil die CSU zum Teil dieselben Sprüche klopft, wie die AfD (Süddeutsche, 21.01.2022). Oder an den CSU-Generalsekretär, Bayrischen Ministerpräsidenten und späteren Kanzlerkandidaten der CDU/CSU Dr. Edmund Stoiber, der 1988 von einer „durchmischt und durchrasst“en Gesellschaft gesprochen hatte.
Den Begriff von einer „durchrassten Gesellschaft“ war erstmals 1988 von Stoiber als CSU-Generalsekretär geprägt worden. Damals hatte er dem SPD-Politiker Oskar Lafontaine vorgeworfen, dieser wolle „eine multinationale Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchrasst“. Den Ausdruck „durchrasst“ hatte Stoiber hinterher öffentlich bedauert.
Der zitierte Spiegelartikel beschäftigt sich mit der Wiederholung und Rechtfertigung dieser Aussage durch den CSU-Rechtsexperten Norbert Geis im Jahr 2002.
All denjenigen, die sich wirklich für die Student*innen und Vertragsarbeiter*innen in der DDR interessieren, sei das Buch „… die DDR schien mir eine Verheißung.“ Migrantinnen und Migranten in der DDR und in Ostdeutschland nahegelegt. Das gibt es an verschiedenen Stellen im Internet frei zum Download (Ostbeauftragter oder https://die-ddr-schien-mir-eine-verheissung.de/)
Medizinische Versorgung
Ich bin in Berlin Buch aufgewachsen. Meine Klassenkamerad*innen waren zum großen Teil Kinder von Ärzt*innen und sonstigem medizinischen Personal. In den 70ern und 80ern gab es eine spezielle Krankenstation zur Pflege und Versorgung Schwarzer Menschen, die in Namibia und Angola in der SWAPO im Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime gekämpft hatten. Über diese Krankenstation und die Menschen und ihre Versorgung wurde in der Aktuellen Kamera und auf Titelseiten von gern gelesenen Zeitschriften berichtet.
Titelseite der DDR-Frauenzeitung Für Dich von 1979. Die DDR hat Verwundete aus Namibia in Berlin-Buch im Klinikum betreut. Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024Bericht in der NBI 13/79 „Dr. Erich Kwiatkowski, Facharzt für Chirurgie im Klinikum Buch, berichtet. Seine Patienten sind Opfer südafrikanischer Überfälle aus Flüchtlingslager in Angola.“ Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Rassismus war explizit ein Thema:
Bericht in der NBI 13/79 über Verbrechen des Rassismus. Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Für mich sind Rassisten Menschen, die solche Verbrechen begehen oder gutheißen. Nicht aber diejenigen, die sie anprangern und den Opfern dieser Verbrechen helfen und sie über lange Jahre gesund pflegen.
Titelseite der Wochenpost vom 05.08.1988. Die DDR hat Verwundete aus Angola in Berlin-Buch im Klinikum betreut. „Gerade ist das Flugzeug aus Luanda gelandet, der Hauptstadt Angolas. Unter den Fluggästen sind drei Namibier, Angehörige der SWAPO. Sie kommen in die DDR, um hier medizinisch betreut zu werden. In Angola, im Flüchtlingslager Kwanze Sul, konnte man ihnen nicht helfen. Jetzt sind sie voller Ungewißheit; Was erwartet sie im fremden Land? Ärzte, Schwestern und Pfleger empfangen die neuen Patienten auf der Solidaritätsstation „Jakob Morenga“ im Klinikum Berlin-Buch. Dort werden Maria, Martha und David möglicherweise für Monate bleiben müssen. Sie brauchen unsere Solidarität.“ Bild in einer Ausstellung im Museum Pankow, Berlin, 04.04.2024
Ich war mit einem Jungen befreundet, dessen Vater ein Dichter aus Syrien war und dessen Mutter Ärztin. Er war voll integriert, anerkannt in der Schule. Null Problemo. Die Beziehung wurde nicht unterbunden. Es gab viele geflüchtete Kommunisten, die in der DDR Zuflucht gefunden hatte. Ein Junge aus meiner Klasse hatte einen italienischen Vater. Er war Chefarzt in einem Krankenhaus. Es waren Menschen aus Chile und aus Griechenland in der DDR. Honecker hatte einen chilenischen Schwiegersohn, zu dem er dann nach der Wende auch ausgewandert ist.
Der nationalistische Taumel der Wiedervereinigung
Ganz zum Schluss, im Fazit, wird das angesprochen, was ich für den eigentlichen oder zumindest den wichtigsten Grund halte.4 Im Fazit steht das wichtigste Wort: Wiedervereinigungseuphorie. Das ist der Punkt. Kohl kam nach Dresden. Er schwamm in einem Meer aus Fahnen. Ein nationalistischer Taumel. Vom Westen gewollt und gefördert. Die taumelten drüben genauso. Vielleicht ist es zu einfach, aber wir haben das damals gesehen.
Menschen, die ihren Kopf in der Hand halten. Ein Hitlerkopf liegt am Straßenrand. Der Himmel ist schwarz. Urheber bekannt, 1989
Wir hatten Angst davor.
Dank ich an angst in der Nacht Herzlichen Glückwunsch zur Wiedervereinigung
Deutschtümelei! Nationalismus! Das kam von der Bundesregierung. Nicht in Berlin. In Berlin wurde Kohl ausgebuht.
In Sachsen wurde er mit offenen Armen empfangen. Er hat den Ossis blühende Landschaften versprochen. Von Oskar Lafontaine, dessen Herz links schlug, und der damals Kanzlerkandidat der Partei war, in der auch Anne Rabe Mitglied ist, wollte niemand etwas Wissen. Er hat die Wahrheit gesagt. Aber „die Wahrheit ist hässlich und hat stinkenden Atem“.
Sicher ist alles nicht monokausal. Die Sache mit den Vertragsarbeiter*innen spielt bestimmt eine Rolle, aber den gesamtdeutschen Nationalismus nur in einem Satz zu erwähnen, ist nicht angemessen.
Zusammenfassung
Ich habe zu Beginn besprochen, dass einer der Autoren des hier besprochenen Aufsatzes, so wie Geipel, Kahane und Rabe, stark mit der DDR verbandelt war. Eine Erklärung für einseitige und falsche Positionen oder Sichtweisen kann dann sein, dass man überhaupt nicht erst in den Verdacht von Systemnähe kommen will.
Zu den „jugendlichen Rechtsextremisten in Jugendtreffs“ habe ich angemerkt, dass diese dort von höchster Stelle geduldet waren. Von Jörg Schönebohm, Generalleutnant der Bundeswehr a.D. und Vorsitzender der CDU, Brandenburg. Nazi-Aktivitäten wurden im Osten durch die Verantwortlichen, die fast ausschließlich aus dem Westen waren (siehe Rabe-Post) nicht ausreichend verfolgt. Die Autoren sprechen vom Nationalstolz, der in der DDR gefördert wurde. Vielleicht waren Menschen stolz auf verschiedene Sportler oder auf Gesamtergebnisse bei Olympiaden, aber bei Katharina Witt war das nicht der Fall. Sie wurde von Tausenden ausgebuht. Nach der Wende hat sie das Land verlassen, weil sie nicht verstanden hat, woher die Abneigung kam. Die Wirtschaft war marode, nichts worauf man stolz sein konnte. Die Behauptung, man hätte in der DDR nicht reisen können und Individualreisen seien unerwünscht gewesen, ist schlicht falsch. Auch die Bemerkungen zu den Jugend-Weltfestspielen entsprechen nicht den Tatsachen, wie man auch noch genauer im zitierten Tagesspiegel-Artikel nachlesen kann. Dass es nicht viel Kontakt zu Vertragsarbeitern gegeben hat, stimmt. Der nationalistische Taumel nach der Wende, der vom Westen auch befeuert wurde, ist sicher ein relevanter Faktor, wurde aber von den Autoren nicht angemessen diskutiert.
Für Anne Rabes Behauptung, im Osten hätte es ideologisch motivierten Nationalismus gegeben, liefern Poutrus, Behrends & Kuck jedenfalls keine Beweise.